Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 3
§ 50d EStG regelt, zusammenfassend ausgedrückt, dass bestimmte Vorschriften der DBA bzw. von EU-Richtlinien unter bestimmten Bedingungen und in bestimmtem Ausmaß nicht anzuwenden sind. Dies betrifft den Steuerabzug vom Kapitalertrag und den Steuerabzug nach § 50a EStG, der trotz gegenteiliger Regelungen in DBA oder EU-Richtlinien durchzuführen ist. Daher gehen § 50d Abs. 1, 3 EStG den Regelungen der DBA vor, soweit das Steuerabzugsverfahren betroffen ist. Abs. 8 bis 11 verdrängen unilateral die in einem DBA vereinbarte Freistellungsmethode durch die Anrechnungsmethode. In allen Fällen enthält die Vorschrift also Regelungen, die im Gegensatz zu dem jeweils einschlägigen DBA stehen und daher abkommensverdrängend ("Treaty Overriding") wirken. Damit ist das Verhältnis dieser Vorschrift zu § 2 AO angesprochen, der die gegenteilige Regelung enthält, dass völkerrechtliche Vereinbarungen (DBA) den Steuergesetzen vorgehen. Diese dem Wortlaut nach bestehende Kollision des Geltungsbereichs beider Vorschriften ist mit den allgem. Regeln über den Anwendungsbereich von Gesetzen zu lösen.
Rz. 3a
Ein Treaty Override liegt vor, wenn ein nationales Gesetz Regelungen enthält, die denen des DBA widersprechen und sich insoweit als das gegenüber dem DBA speziellere Gesetz Vorrang vor dem DBA zulegt. Demgegenüber hat das FG Hamburg einen eingeschränkteren Begriff des Treaty Overrides vertreten. Ein Treaty Override soll danach nur vorliegen, wenn das DBA zeitlich vor dem Gesetz in Kraft getreten ist, das das Treaty Override enthält. Danach vertritt das FG Hamburg die Ansicht, dass ein Treaty Override eines erst danach in Kraft tretenden, also zukünftigen DBA nicht möglich sei. Dem kann in dieser grundsätzlichen Form nicht gefolgt werden. Die Geltung des Treaty Overrides beruht auf dem Grundsatz, dass das speziellere Gesetz vorgeht (näher hierzu Rz. 4, 4a). Es gibt aber keinen Grundsatz, dass ein Gesetz nur im Verhältnis zu vorher ergangenen Gesetzen das speziellere Gesetz sein könne. Auch ein DBA als das gegenüber den allgemeinen Steuergesetzen speziellere Gesetz erhält Vorrang vor späteren Gesetzen. Ein Grundsatz, dass ein spezielles Gesetz, sei es "treaty overriding" oder nicht, nur gegenüber früher erlassenen Gesetzen, nicht aber gegenüber später erlassenen vorrangig ist, lässt sich aus der Gesetzessystematik nicht ableiten. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass sich ein späteres Gesetz, das DBA, gegenüber einem früheren Treaty Override durchsetzt, dass also das spätere Gesetz das speziellere verdrängt; hierzu Rz. 4a.
Rz. 4
DBA als völkerrechtliche Verträge erlangen Rechtsqualität innerhalb des innerstaatlichen Rechtssystems nur durch die Übernahme in innerstaatliches Recht. Dies geschieht durch das Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG, durch das angeordnet wird, dass das Abkommen als nationales Recht anzuwenden ist. Rechte und Pflichten des Stpfl. können sich nicht aus einem völkerrechtlichen Vertrag, sie können sich nur aus einem Akt des Gesetzgebers ergeben. Das Vertragsgesetz ist in der Rechtsqualität einfaches Gesetz; also haben auch die DBA in ihrer Anwendung als innerstaatliches Recht nur die Qualität eines einfachen innerstaatlichen Gesetzes. Dem in nationales Recht umgesetzten völkerrechtlichen Vertrag kann kein höherer Rang als der eines einfachen Gesetzes eingeräumt werden. Völkerrechtliche Verträge, und damit auch DBA, enthalten grundsätzlich keine "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" i. S. d. Art. 25 S. 2 GG, die einen "Zwischenrang" zwischen einfachem Gesetz und Grundgesetz einnehmen.
Rz. 4a
Eine grundsätzlich andere Position hat der BFH vertreten. Danach soll sich aus der "Völkerrechtsfreundlichkeit" des GG ergeben, dass alle Staatsorgane gehalten sind, Völkerrechtsverstöße zu vermeiden. Das gelte auch für den Gesetzgeber. Habe dieser einen völkerrechtlichen Vertrag durch den Anwendungsbefehl in innerstaatliches Recht umgesetzt, habe er sich der "Verfügungsmacht über den Rechtsbestand" begeben. Der völkerrechtliche Vertrag wirke ungeachtet der demokratisch legitimierten Rechtssetzungsbefugnis des Gesetzgebers als materiell-rechtliche "Sperre" gegen Änderungen. Das gelte nur dann nicht, wenn ein Abweichen von dem völkerrechtlichen Vertrag zur Vermeidung eines Verstoßes gegen tragende Grundsätze der Verfassung erforderlich sei. Im Fall eines Treaty Overrides im Steuerrecht liege ein solcher Fall regelmäßig nicht vor. Das BVerfG hat dieser Ansicht jedoch eine klare Absage erteilt. Der Gesetzgeber sei nicht an frühere gesetzliche Entscheidungen gebunden. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG habe zwar Verfassungsrang, begründe aber keine uneingeschränkte Pflicht zur Beachtung aller völkerrechtlichen Verträge. Dieser Grundsatz müsse zwar zur Auslegung der Gesetze herangezogen werden, da eine Vermutung dafür bestünde, dass sich der Gesetzgeber nicht in Gegensatz zu völkerrechtlichen Verträgen setzen wollte. Das erlaube aber nicht die Auslegung entgegen einem eindeutig...