7.5.1.1 Systematische Einordnung der "Mobilitätskosten"
Rz. 112
Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte sind nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG Werbungskosten.
Es ist nicht zweifelsfrei, ob diese Aufwendungen von Natur aus Werbungskosten sind; sie haben eine ebenso starke Bindung zur "Wohnung", also dem privaten Bereich, wie zur "ersten Tätigkeitsstätte", also der Sphäre der Einkunftserzielung. Es könnte daher zunächst naheliegen, diese Aufwendungen insgesamt oder teilweise nach § 12 Nr. 1 EStG als private Aufwendungen einzuordnen.
Aus der Regelung des EStG lässt sich ableiten, dass die steuerlich erhebliche Berufssphäre nicht erst am Eingang zu der ersten Tätigkeitsstätte beginnt, sondern dass auch die Fahrtkosten (Mobilitätskosten) zu der beruflichen Sphäre gehören, auch wenn sie im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre liegen und daher Elemente von gemischten Aufwendungen tragen, also Werbungskosten vorliegen.
Rz. 112a
Durch Gesetz v. 19.7.2006 hat der Gesetzgeber versucht, insoweit einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Er hat Abs. 1 Nr. 4 gestrichen (ebenso wie die entsprechende Regelung für Familienheimfahrten; Rz. 213) und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Kosten der Fahrten zur Arbeitsstätte grundsätzlich aus der beruflichen Sphäre auszuscheiden sind. Die berufliche Sphäre sollte daher, anders als nach der bis Vz 2006 geltenden Regelung, erst am "Werkstor" beginnen. Es sollte daher grundsätzlich in den Privatbereich des Arbeitnehmers fallen, von seiner Wohnung zum Werkstor zu gelangen. An die Stelle dieser Vorschriften war Abs. 2 a. F. getreten. Das BVerfG hat den Ausschluss der Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für die ersten 20 km wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG für verfassungswidrig erklärt. Grund hierfür war, dass der Gesetzgeber mit der 20-km-Grenze die Abweichung von dem objektiven Nettoprinzip nicht aufgrund einer Bewertung privater oder beruflicher Veranlassung, sondern allein nach der Entfernung begründet hat; dies sei jedoch kein angemessener Abgrenzungsmaßstab. Förderungs- und Lenkungszwecke, die eine Abweichung von dem objektiven Nettoprinzip rechtfertigen könnten, hätte der Gesetzgeber nicht angeführt. Die 20-km-Grenze könne auch nicht als Härtefallregelung gerechtfertigt werden, weil sie keinen Bezug zu der finanziellen Leistungsfähigkeit des Stpfl. (etwa in Form einer zumutbaren Eigenbelastung) aufweise.
Dagegen hat das BVerfG anerkannt, dass die Wegekosten auch privat veranlasst sind und daher dem Gesetzgeber erhebliche Typisierungsspielräume eröffnet sind. Das BVerfG sah in der gesetzlichen Regelung jedoch nicht das Ergebnis von Typisierungsüberlegungen; der Gesetzgeber habe alle dafür erforderlichen Überlegungen unterlassen, wie Wahl des Verkehrsmittels, empirisch begründeten Sachverhaltsannahmen, Abwägung der privaten oder beruflichen Veranlassung usw. Die Grenze von 20 km sei dafür ungeeignet; im Gegenteil spreche es umso mehr für eine private Veranlassung, je weiter die Wohnung vom Arbeitsplatz entfernt ist. Die Neuregelung habe auch keinen Systemwechsel enthalten, weil dafür ein neues System zumindest in Umrissen erkennbar sein müsse und sich nicht auf einen Einzelaspekt beschränken dürfe. Das Mindestmaß einer konzeptionellen Neuorientierung werde durch die Regelung nicht erreicht. Insgesamt weise die Neuregelung ein hohes Maß an Inkonsequenz und mangelnder Konsistenz der Regelungsziele auf.
Als Folge hat das BVerfG dem Gesetzgeber die Neuregelung der Abzugsfähigkeit der Wegekosten rückwirkend ab Vz 2007 aufgegeben. Für die Übergangszeit soll die Regelung weiter gelten, jedoch mit der Maßgabe, dass die Einschränkung "ab dem 21. km" entfällt. Alle übrigen Regelungen sollen (vorläufig) weiter angewendet werden; das gilt auch für die Beträge. Die Veranlagungen sollen vorläufig nach § 165 AO vorgenommen werden, damit die notwendige rückwirkende Änderung verfahrensrechtlich durchgesetzt werden kann.
Durch Gesetz v. 20.4.2009 wurde die Gesetzeslage 2006 identisch und unbefristet wiederhergestellt. Das Gesetz ersetzte damit die Entscheidung des BVerfG. Im Ergebnis gelten hiermit die zwischenzeitlich eingetretenen weiteren Einschränkungen nicht mehr.
Mit dem Unternehmensteuerreformgesetz 2012 hat der Gesetzgeber den unbestimmten Rechtsbegriff der regelmäßigen Arbeitsstätte ab Vz 2014 durch den Begriff der ersten Tätigkeitsstätte ersetzt und dessen Voraussetzungen in § 9 Abs. 4 EStG n. F. definiert (Rz. 122a).