Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Verfügung auf Unterlassung von Kündigung bei Betriebsänderung wegen Interessenausgleichsversuch
Leitsatz (amtlich)
1) Es besteht kein Anlaß von der Auffassung abzugehen, daß dem Arbeitgeber im Falle von Betriebsänderungen zwecks Sicherung des Beteiligungsrechts des Betriebsrates bezüglich Interessenausgleich im Wege der einstweiligen Verfügung für eine bestimmte Zeit untersagt werden kann, Kündigungen auszusprechen (Bestätigung des Beschlusses der erkennenden Kammer vom 30.08.1984, 4 TaBVGa 113/84, DB 85, 178).
2) Für die Bestimmung der Dauer der Unterlassungspflicht … kann (unter anderem) berücksichtigt werden, daß (auch) der Betriebsrat die Interessenausgleichsverhandlungen bis hin zur Bildung der Einigungsstelle (etwa durch Einleitung des Verfahrens nach § 98 ArbGG) aktiv betreiben kann und das von ihm regelmäßig zu erwarten ist. Es ist dann ggf. darauf abzustellen und abzuschätzen, bis wann die Einigungsstelle – unter Annahme eines zügigen und komplikationslosen Verlaufs der Vorgänge – hätte gebildet werden, verhandeln und die Verhandlungen – mit welchem Ausgang auch immer – abschließen können.
Normenkette
BetrVG § 111 ff.; ArbGG § 85 Abs. 2; ZPO §§ 935, 940
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Beschluss vom 10.03.1993; Aktenzeichen 3 BVGa 8/93) |
Tenor
Die Beschwerde des Arbeitgebers (Antragsteller) gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts Gießen vom 10.03.1993 – 2 BVGa 8/93 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die dem Arbeitgeber auferlegte Unterlassungspflicht auf die Zeit bis zum 13. Mai 1993 begrenzt ist.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen vorliegenden einstweiligen Verfügungsverfahrens um die vom antragstellenden Betriebsrat begehrte Unterlassung von Kündigungen gegenüber Arbeitnehmern des Arbeitgebers auf dem Hintergrund von Personalreduzierungen ab Sommer 1992.
Wegen des zugrundeliegenden Sachverhaltes, des Vorbringens der Beteiligten und ihrer Anträge in erster Instanz wird auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.
Nachdem dem Arbeitgeber in dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Beschluß vom 25. Februar 1993 unter Androhung von Ordnungsgeld aufgegeben worden war, es zu unterlassen, betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen, solange nicht die Verhandlungen über einen Interessenausgleich, ggf. vor der Einigungsstelle, beendet sind, hat das Arbeitsgericht auf Widerspruch des Arbeitgebers durch Beschluß vom 10. März 1993 das Unterlassungsgebot im wesentlichen aufrechterhalten, jedoch die Unterlassungspflicht auf die Zeit bis zum 31. Mai 1993 begrenzt.
Gegen diesen dem Arbeitgeber am 15. März 1993 zugestellten Beschluß, auf dessen Inhalt zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen wird, richtet sich die am 24. März 1993 beim Landesarbeitsgericht eingegangene und gleichzeitig begründete Beschwerde des Arbeitgebers, mit der dieser die Zurückweisung des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung weiterverfolgt.
Der Arbeitgeber ist der Auffassung, bei Betriebsänderungen komme keine Kündigungen untersagende einstweilige Verfügung in Betracht. Jedenfalls, so bringt er weiter vor, sei die Befristung der Unterlassungspflicht bestenfalls bis zum 30. April 1993 gerechtfertigt. Im übrigen stehe ohnehin nicht eine Betriebsänderung in Frage, für die die Vereinbarung eines Interessenausgleichs zu versuchen sei. Von den insgesamt 21 Abgängen zwischen Juli 1992 und 1. März 1993 seien nur sieben betriebsbedingt. Zwei betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmern sei die Weiterbeschäftigung angeboten und sie seien auch zur sofortigen Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit aufgefordert worden. Schließlich sei der Personalabbau von 72 auf 53 Arbeitnehmern im oben genannten Zeitraum nicht auf einheitliche unternehmerische Planung zurückzuführen.– Für das zweitinstanzliche Vorbringen des Arbeitgebers im übrigen wird auf seine Schriftsätze vom 23. März 1993 und 29. März 1993 verwiesen.
Der Betriebsrat bittet um Zurückweisung der Beschwerde des Arbeitgebers. Er verteidigt den angefochtenen Beschluß.
Die Akte 3 BV Ga 3/93 – Arbeitsgericht Gießen – war beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde des Arbeitgebers ist im wesentlichen unbegründet; sie hat lediglich hinsichtlich der Dauer der Begrenzung der Unterlassungspflicht zum Teil Erfolg.
1.
Soweit der beschwerdeführende Arbeitgeber vorbringt, eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG 1972 (§§ohne Gesetzesbezeichnung sind im folgenden immer solche des BetrVG von 1972), die Gegenstand des Versuchs zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs sein müsse, liege nicht vor, so kann dem nicht gefolgt werden.
In der Antragsschrift vom 16. Februar 1993 im Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung – 3 BV Ga 3/93 Arbeitsgericht Gießen – führt der Arbeitgeber aus, gegen Ende des Jahres 1992 sei die bereits drückende Auftragssituation derart prekär geworden, daß sich die Antragstellerin (Arbeitgeber) veranlaßt gesehen habe, schrittweise einen noch weitergeh...