Entscheidungsstichwort (Thema)
Flugblattverteilung
Leitsatz (amtlich)
Auch ein einzelnes Betriebsratsmitglied ist aus konkretem betrieblichem Anlaß berechtigt, sich um mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten mit einem Flugblatt an die Belegschaft zu wenden, wenn dadurch der Betriebsfrieden nicht konkret gefährdet wird (§ 74 Abs. 2 Satz 2 BetrVG).
Eine auf solches Verhalten gegründete Abmahnung ist aus der Personalakte zu entfernen.
Normenkette
BetrVG § 74 Abs. 2 S. 2; GG Art. 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 28.05.1996; Aktenzeichen 4 Ca 2856/95) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen des Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Mein vom 28.05.1996 – 4 Ca 2856/95 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Für die Beklagte wird die Revision zugelessen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Entfernung einer Abmahnung aus seiner Personalakte.
Er ist seit 15.09.1990 als Chemiker bei der Beklagten in deren Werk … beschäftigt und gewähltes Betriebsratsmitglied. Er gehört der Betriebsratsgruppierung „Die Durchschaubaren – Kolleginnen und Kollegen für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit” an, die eine Minderheit in dem überwiegend von Mitgliedern der IG-Chemie getragenen Betriebsrat bei der Beklagten bildet. Bei ihr gilt eine „Arbeitsordnung” vom 06.11.1972 in der Form einer Gesamtbetriebsvereinbarung, auf deren vollständigen Inhalt ergänzend Bezug genommen wird (Bl. 60 – 68 d. A.). In deren Ziff. 26 (Bl. 64 d. A.) heißt es:
„Es ist verboten, ohne Erlaubnis der Werksleitung im Werksbereich… Flugblätter, Handzettel oder Druckschriften zu verteilen…”
Im Betrieb der Beklagten existieren Informationstafeln, die mit Zustimmung seitens der Beklagten auch vom Betriebsrat genutzt werden dürfen. Am 20.10. und 15.12.1987 erteilte die Beklagte dem Kläger schriftliche Abmahnungen, weil er im Oktober 1987 wegen einer von ihm so eingeschätzten Benachteiligung von Schichtarbeitern auf dem Grundstück der Beklagten vor dem Werkstor einen Informationsstand errichtet und Flugblätter verteilt hatte sowie innerhalb des Werkes Unterschriften gesammelt hatte. Nachdem die Beklagte durch das Arbeitsgericht Frankfurt am Main am 25.08.1988 verurteilt worden war, die genannten Schreiben aus der Personalakte zu entfernen (Az.: 13 Ca 45/88, Bl. 16 – 29 d. A.) schlossen die Parteien im Berufungsrechtszug am 14.06.1989 einen Vergleich, dessen erste beiden Ziffern lauten:
- „Die Beklagte verpflichtet sich, das Schreiben vom 20.10.1987 und die Abmahnung vom 15.12.1987 aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.
- Es besteht Einigkeit darüber, daß der Kläger berechtigt ist, in Wahrnehmung von Rechten aus der Betriebsverfassung sich auf dem gesamten Werksgelände zu bewegen. Dieses Recht wird durch die Arbeitsordnung nicht beschränkt. Davon bleiben etwaige Sicherheitsbestimmungen unberührt.”
Zu Beginn des Jahres 1995 beabsichtigte die Beklagte, das bis dahin geltende Vergütungssystem zu ändern und trat in entsprechende Verhandlungen mit dem Betriebsrat ein. Der Kläger und die Betriebsratsgruppierung, der er angehört, vertraten die Auffassung, daß durch die beabsichtigte Änderung insbesondere die Gruppe der Handwerker benachteiligt werde. Nach Abmeldung für die Wahrnehmung von Betriebsratstätigkeit verteilte der Kläger am frühen Morgen des 15.02.1995 innerhalb des Gebäudes der Pharmafertigung … an die dort tätigen Handwerker ein Flugblatt mit der Überschrift „Abgruppierung bei den Handwerkern geplant!”. Auf den Inhalt dieses Flugblattes wird ergänzend Bezug genommen (Bl. 11 und 11 Rücks, d. A.). Unter dem 03.03.1995 richtete die Beklagte an den Kläger einen mit „Abmahnung” überschriebenen Brief, der auch zu seiner Personalakte genommen wurde. Darin wurde dem Kläger vorgehalten, durch das Verteilen der Flugblätter die Arbeitsordnung verletzt zu haben und mitgeteilt, daß er „im Falle eines erneuten Fehlverhaltens” den Bestand seines Arbeitsverhältnisses gefährde. Auf den vollständigen Wortlaut wird ergänzend Bezug genommen (Bl. 12 d. A.).
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, zu dem seitens der Beklagten gerügten Verhalten bereits nach dem Inhalt des zwischen den Parteien am 14.06.1989 geschlossenen Vergleiches berechtigt gewesen zu sein. Im übrigen hat er gemeint, er habe in seiner Eigenschaft als Betriebsrat anläßlich der anstehenden Verabschiedung einer Betriebsvereinbarung über die Änderung des Entgeltsystems in der von ihm praktizierten Weise an der innerbetrieblichen Meinungsbildung mitwirken dürfen. Er hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, die mit Schreiben vom 03.03.1995 erteilte Abmahnung zurückzunehmen und das Schreiben vom 03.03.1995 aus der Personalakte zu entfernen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage zurückzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, zwar habe der Betriebsrat als Organ das Recht, die Belegschaft durch Flugblätter zu unterrichten. Der Kläger aber könne als Betriebsratsmitglied diese Rechte nicht für sich ockupieren. Aus dem Impressum des Flugblattes, „Die Durchschaubaren”, ergebe sich zudem daß...