Dr. Andreas Nagel, Simon Beyme
Frage: Die Rechtsprechung und mit ihr ein Teil der ihr folgenden Literatur gewähren dem Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren nur einen Anspruch auf Akteneinsicht in die Steuerakten des Finanzamts im Rahmen des sog. pflichtgemäßen Ermessens. Die Finanzverwaltung vertritt hierzu im AEAO zu § 364 die Auffassung, dass den Beteiligten die Besteuerungsunterlagen (im Einspruchsverfahren) mitzuteilen oder anderweitig offenzulegen sind, wenn sie dies beantragt haben oder wenn die Einspruchsbegründung dazu Anlass gibt. Wenn die Finanzbehörde es für zweckmäßig hält, kann sie Akteneinsicht gewähren (wegen der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren vgl. § 78 FGO sowie Honorargestaltung 4/2021 und 9/2021).
Da sich die Finanzämter mit der Akteneinsicht im Besteuerungsverfahren bekanntlich "schwertun" und diese nur restriktiv gewähren, haben wir im Kollegenkreis diskutiert, ob diese Hürde durch den datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch "umschifft" und das Akteneinsichtsrecht auf § 15 DSGVO gestützt werden kann. Was meinen Sie dazu?
Antwort: Nach Auffassung der Finanzverwaltung (vgl. BMF, Schreiben v. 13.1.2020, IV A 3-S 0130/19/10017:004, 2019/1129406, BStBl 2020 I, S. 143, Rz. 2 f.) sind die Regelungen der DSGVO auch im Verwaltungsverfahren in Steuersachen nach der AO unmittelbar anzuwenden. Zum Verwaltungsverfahren in Steuersachen nach der AO gehören insbesondere die Ermittlung der Steuerpflichtigen und der steuerrelevanten Sachverhalte (ggf. auch im Rahmen einer Außenprüfung, Lohnsteuer-Außenprüfung, Umsatzsteuer-Sonderprüfung, Lohnsteuer-Nachschau, Umsatzsteuer-Nachschau oder Kassen-Nachschau), die Festsetzung und Erhebung von Steuern, Steuervergütungen und steuerlichen Nebenleistungen einschließlich der Vollstreckung dieser Ansprüche, die Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern sowie das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren.
Die von der Datenverarbeitung betroffenen Personen haben nach Art. 12 bis 22 DSGVO verschiedene Rechte, bzw. den Verantwortlichen obliegen hiernach gegenüber den betroffenen Personen bestimmte Pflichten. Der nationale Gesetzgeber hat im Anwendungsbereich der AO von der ihm eingeräumten Regelungsbefugnis Gebrauch gemacht und die Betroffenenrechte modifiziert. Die Betroffenenrechte werden ergänzend zur DSGVO durch §§ 32a bis 32f AO eingeschränkt.
Soweit der Erteilung der Information oder Auskunft keine Rechtsgründe entgegenstehen, bestimmt die Finanzbehörde die Form der Informations- oder Auskunftserteilung gem. § 32d AO grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen.
Akteneinsicht hängt vom Fall ab
Die Pflicht nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO ist nach Auffassung der Finanzverwaltung (BMF, Schreiben v. 13.1.2020, a. a. O., Rz. 66) nicht mit einem allgemeinen Akteneinsichtsrecht gleichzusetzen. Halte die Finanzbehörde es für zweckmäßig, könne sie eine Auskunft im Wege der Akteneinsicht erteilen (§ 32d Abs. 1 AO). § 78 FGO, wonach die Beteiligten im finanzgerichtlichen Verfahren das Recht hätten, die dem Gericht vorgelegten Akten einzusehen, bleibe unberührt (vgl. aktuell BFH, Beschlüsse v. 30.5.2022, II B 55/21 und II B 56/21, jeweils m. w. N.).
Folgt aus Art. 15 DSGVO ein Anspruch auf Akteneinsicht im Steuerverfahren?
Die betroffene Person hat nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden. Ist dies der Fall, hat sie ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO näher bestimmten Informationen. Der Verantwortliche stellt eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Stellt die betroffene Person den Antrag elektronisch, sind die Informationen in einem gängigen elektronischen Format zur Verfügung zu stellen, sofern sie nichts anderes angibt (Art. 15 Abs. 3 DSGVO).
Zur Form der datenschutzrechtlichen Auskunftserteilung gilt ferner, dass soweit Art. 12 bis 15 DSGVO keine Regelungen enthalten, die Finanzbehörde das Verfahren, insbesondere die Form der Information oder der Auskunftserteilung, nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (§ 32d Abs. 1 AO).
Das BMF-Schreiben v. 13.1.2020 (a. a. O., Rz. 64 ff.) konkretisiert § 32c AO, Art. 15 DSGVO dahingehend, dass die betroffene Person das Recht hat, von der verantwortlichen Finanzbehörde formlos und ohne Begründung eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten von der Finanzbehörde verarbeitet werden. Ist dies der Fall, hat sie ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO genannten Informationen.
Ein grundsätzlicher Anspruch auf Akteneinsicht besteht im Verwaltungsverfahren in Steuersachen nach der AO – zumindest nach Verwaltungsauffassung – nicht.
Die bisherige Rechtsprechung zum Recht auf Akteneinsicht (nach der DSGVO)
Nach Inkrafttreten der DSGVO im Mai 2018 musste sich die Rechtsprechung bereits in unterschiedlichen Fallkonstel...