2.1 Voraussetzungen der Wiedereinsetzung
Rz. 3
Durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, auf die der Beteiligte einen Rechtsanspruch hat, wird eine verspätet vorgenommene Handlung als rechtzeitig vorgenommen angesehen. Voraussetzung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Abs. 1 Satz 1 ist, dass der Betroffene eine gesetzliche Frist versäumt hat, die Fristversäumung auf einer Verhinderung und nicht auf Verschulden beruhte. § 27 gilt nur für gesetzliche Fristen, d. h. solche, die sich aus einer Rechtsnorm (Gesetz, Verordnung, Satzung) ergeben. Sie erfasst Verfahrensfristen und grundsätzlich auch materiell-rechtliche Fristen. Sie ist nach Abs. 5 nur unzulässig, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist oder sich durch Auslegung nach dem Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Interessenabwägung ergibt (BSG, Urteil v. 25.10.1988,12 RK 22/87, BSGE 64 S. 153 = SozR 1300 § 27 Nr. 4; vgl. Rz. 11). Wiedereinsetzung kommt z. B. in Betracht bei der Frist nach § 9 Abs. 2 SGB V (BSG, Urteil v. 14.5.2002, B 12 KR 14/01 R, SozR 3-2500 § 9 Nr. 4; BSG, Urteil v. 28.5.2008, B 12 KR 16/07 R, SozR4-2500 § 9 Nr. 2). Keine Wiedereinsetzung kommt bei § 37 SGB II in Betracht, da § 37 SGB II keine Frist festsetzt, sondern lediglich das Verhältnis zwischen Leistungsbeginn und Antragstellung regelt (BSG, Urteil v. 18.1.2011, B 4 AS 99/10 R, SozR 4-4200 § 37 Nr. 5).
Rz. 3a
Wiedereinsetzung ist nur zu gewähren, wenn die Frist ohne Verschulden versäumt wurde. Dies ist der Fall, wenn die einem gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und nach den Umständen des Einzelfalles zumutbare Sorgfalt nicht eingehalten worden ist. Grundsätzlich gilt hier ein subjektiver Maßstab, so dass Geisteszustand, Alter, Bildungsgrad und Geschäftsgewandtheit des Betroffenen berücksichtigt werden können (BSG, Urteil v. 15.8.2000, B 9 VG 1/99 R, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3). Die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Betroffenen dürfen grundsätzlich nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss v. 3.6.1975, 2 BvR 457/74, BVerfGE 40 S. 46).
Rz. 4
Kein Verschulden liegt z. B. vor, wenn durch langsamen und verzögerten Postlauf die Frist nicht eingehalten wurde; denn gesetzliche Fristen dürfen voll ausgenutzt werden, und auf normale Postbeförderungsdauer können die Beteiligten vertrauen. Im Bundesgebiet bedarf der Beteiligte grundsätzlich darauf vertrauen, dass richtig adressierte und ausreichend frankierte, werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Dies gilt selbst dann, wenn – etwa vor Feiertagen – allgemein mit erhöhtem Postaufkommen zu rechnen ist. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus § 2 Postuniversaldienstleistungsverordnung v. 15.12.1999. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss der Beteiligte nicht mit längeren Postlaufzeiten rechnen. Dabei muss der Beteiligte die Leerungszeiten des von ihm benutzten Briefkastens beachten (BGH, Beschluss v. 20.5.2009, IV ZB 2/08).
Wenn eine Behörde ein Postschließfach hat, gelten fristgebundene materiellrechtliche Anträge mit dem Zeitpunkt des Einsortierens in das Postschließfach als eingegangen (BSG, Urteil v. 1.2.1979, 12 RK 33/77, BSGE 48 S. 12 = SozR 2200 § 1227 Nr. 23). Bestehen Zweifel über den Zeitpunkt des Eingangs, so trifft die objektive Beweislast grundsätzlich den Antragsteller,.
Rz. 5
Arbeitsüberlastung stellt keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, ebenso wenig Krankheit, wenn der Beteiligte selbst das Nötige noch veranlassen, insbesondere einen anderen mit der Vornahme der Handlung hätte beauftragen können. Ein Verschulden ist nur dann nicht anzunehmen, wenn der Beteiligte infolge ernsthafter plötzlicher Erkrankung die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten beauftragen konnte. Eine Verhinderung liegt nicht vor, wenn die fristgebundene Handlung aus eigenem Entschluss des Beteiligten unterbleibt, weil er beispielsweise einen Antrag fälschlicherweise für aussichtslos gehalten hat. Mangelnde Rechtskenntnis entschuldigt eine Fristversäumnis grundsätzlich nicht. Nach dem Grundsatz der formellen Publizität von Gesetzen genügt für die Bekanntmachung von Gesetzen, die sich an einen unbestimmten Kreis von Personen richten, die Verkündung im Bundesgesetzblatt. Mit der Verkündung gelten die Gesetze grundsätzlich allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie von ihnen tatsächlich Kenntnis erlangt haben. Bei Unkenntnis von einem gesetzlich eingeräumten und befristeten Recht scheidet deshalb eine Wiedereinsetzung aus (BSG, Urteil v. 9.2.1993, 12 RK 28/92, BSGE 72 S. 80 = SozR 3-1300 § 27 Nr. 3).
Rz. 6
Nach Abs. 1 Satz 2 ist dem Betroffenen das Verschulden eines Vertreters zuzurechnen. Es richtet sich danach, ob er die im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfaltspflichten beachtet hat. An die Sorgfaltspflicht von Rechtsanwälten, Rechtsbeiständen,, Rechtssekretären der Gewerkschaft und Verbandsvertretern sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Haben Bedienstete des Vertreters die Fristversäumung verursacht, so kann dies dem Vertreter nur...