Rz. 41
Bei unverschuldeter Versäumung einer Verfahrensfrist ist Wiedereinsetzung zu gewähren (§ 67 SGG). Für den Fall der fehlenden Begründung oder der unterlassenen Anhörung fingiert Abs. 3 die Versäumung der Widerspruchsfrist als nicht verschuldet. Diese Fiktion beruht darauf, dass sich in diesen Fällen aufgrund der fehlenden tatsächlichen und rechtlichen Gründe und Begründungen die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs erst nach Klärung dieser Grundlagen abschätzen lassen. Die nur fehlerhafte Begründung des VA führt nicht zur Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist; es ist vielmehr die Frist der Rechtsbehelfsbelehrung des VA einzuhalten.
Rz. 42
Die unterlassene Anhörung eines Beteiligten kann nur den Fall eines bisher nicht Beteiligten betreffen, denn der Adressat des VA als Beteiligter hat entweder einen Bescheid erhalten und die Widerspruchsfrist der Rechtsbehelfsbelehrung einzuhalten oder ist in Zusammenhang mit einer nachträglichen Heilung bereits am Widerspruchs- oder Klageverfahren als Partei beteiligt. Erhält der bisher nicht beteiligte Dritte erst im Widerspruchsverfahren oder durch eine notwendige Beiladung im Klageverfahren (§ 75 Abs. 2 SGG) Kenntnis von einem ihn belastenden VA, kann er mangels vorheriger Bekanntgabe diesen auch ungeachtet der Frage der Wiedereinsetzung anfechten, und zwar mangels ihm erteilter Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres nach Kenntnis des VA. Der bisher am Verfahren Beteiligte kann sich allerdings für die formelle Rechtswidrigkeit eines VA nicht darauf berufen, dass ein Dritter verfahrensmangelhaft nicht oder nicht ordnungsgemäß zum Verfahren beigezogen worden war (vgl. BSG, Urteil v. 12.6.2001, B 4 RA 37/00 R, SozR 3-2600 § 243 Nr. 9).
Rz. 43
Erforderlich bleibt jedoch der Nachweis der Kausalbeziehung zwischen unterbliebener Anhörung oder fehlender Begründung und dem nicht fristgerechten Widerspruch oder der Klageerhebung. Diese Voraussetzungen sind zumindest glaubhaft zu machen. Die Anforderungen an den Kausalitätsnachweis sind dabei nicht hoch anzusetzen und es genügt, wenn sich bei früherer Begründung oder Anhörung die Bedenken des Betroffenen gegen die Rechtmäßigkeit des VA erhöht hätten (Waschull, in: LPK-SGB X, 3. Aufl. 2011 § 41 Rz. 26). Die fehlende Begründung, die die Nachprüfung der Rechtmäßigkeit eines VA in jedem Fall erschwert, dürfte insoweit schon für sich für die Darlegung und Glaubhaftmachung des Kausalzusammenhangs ausreichend sein. Die fehlende vorherige Anhörung ist nur dann als Ursache denkbar und plausibel, wenn der VA zusätzlich Mängel in den Gründen oder der Begründung enthält, die dem Betroffenen bislang in tatsächlicher Hinsicht unbekannt waren und sein konnten. Ausgeschlossen ist der Nachweis des Zusammenhangs zwischen Mangel und Fristversäumnis, wenn unzweifelhaft feststellbar ist, dass die Fristversäumung auf andere Gründe zurückzuführen ist. In diesen Fällen ist daher keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand geboten.
Rz. 44
Das für die Wiedereinsetzung maßgebliche Ereignis ist der Zeitpunkt der Nachholung der Begründung oder der Anhörung, also der Darlegung der wesentlichen tragenden Gründe. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist innerhalb von einem Monat (§ 67 Abs. 2 SGG bei Zuständigkeit der Sozialgerichte) bzw. 2 Wochen (§ 60 Abs. 2 VwGO bei Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte – Wohngeld, BAföG, bis 31.12.2004 Sozialhilfe) zu stellen, und auch die versäumte Handlung (Einlegung des Rechtsbehelfs) ist innerhalb dieser Frist nachzuholen. Ungeachtet der Nachholung ist nach Ablauf eines Jahres, soweit dies nicht wegen höherer Gewalt unmöglich war, weder Wiedereinsetzung noch die Nachholung des Rechtsbehelfs möglich (vgl. Komm. zu § 27 und § 67 SGG).
Rz. 45
Die Verlängerung der Rechtsbehelfsfrist (§ 66 Abs. 2 SGG) bei unterlassener oder falscher Rechtsbehelfsbelehrung nach § 36 wird durch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung wegen Anhörungs- oder Begründungsmängeln nicht ausgeschlossen. Desgleichen bleibt das Recht auf Überprüfung des VA gemäß § 44 bestehen.
Rz. 46
Die Regelungen des Abs. 3 gehen ins Leere, wenn die Begründung oder Anhörung erst im Verlaufe eines schon anhängigen Widerspruchs- oder Klageverfahrens nachgeholt werden.
Rz. 46a
In einem sozialgerichtlichen Eilverfahren kann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfes nicht mit Verfahrens- oder Formfehlern begründet werden, die nach § 41 Abs. 1 heilbar sind (Bay. LSG, Beschluss v. 25.3.2014, L 16 AS 150/14 B ER).