Rz. 4
Die praktische Bedeutung des Leistungsausschlusses nach Abs. 1 ist auch nach der Neufassung der Vorgängervorschrift durch das SGB VII gering. Betroffene können nur Hinterbliebene sein, die sonst einen Anspruch nach §§ 63 ff. hätten. Bei vorsätzlichen Tötungsdelikten dieser Personen fehlt es regelmäßig an dem notwendigen inneren Zusammenhang zur beruflichen Tätigkeit des Versicherten bzw. des Opfers (Ricke, in: BeckOGK, SGB VII, § 101 Rz. 4, und Ricke/Kellner, in: BeckOGK, SGB VII, § 8 Rz. 167), da die persönliche Motivation des Täters den betrieblichen Zusammenhang regelmäßig überlagert und entfallen lässt mit der Folge, dass bereits kein Versicherungsfall vorliegt (BSG, Urteil v. 18.6.2013, B 2 U 10/12 R). Ein Arbeitsunfall als Versicherungsfall liegt nur dann vor, wenn dem betrieblichen Bereich zuzuordnende Verhältnisse den Angriff erst ermöglichen oder wesentlich begünstigt haben (Reyels, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 101 Rz. 17, mit Hinweis auf BSG, Urteil v. 19.3.1996, 2 RU 19/95).
Es kommt wesentlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Möglich sind Fälle, in denen Familienangehörige zusammenarbeiten und die Tötung anlässlich eines Streits über betriebliche Belange geschieht (Hauck/Freund, SGB VII, § 101 Rz. 3) oder wenn die Tötung erst durch bestimmte betriebliche Umstände möglich wird (BSG, a. a. O.: Sprengstoffanschlag auf die Ehefrau durch eine Briefbombe in der von ihr zu öffnenden Geschäftspost; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 2.4.1998, L 6 U 36/96: Tötung auf dem Weg zur Arbeit, wenn der Arbeitsweg der wesentliche Umstand war, die Tat zu ermöglichen oder wesentlich zu fördern).
Rz. 5
Für den Fall, dass die Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich ist, liegt die objektive Beweislast für das Vorliegen der die Leistung ausschließenden Tatsachen beim Unfallversicherungsträger. Im Gegensatz zu Abs. 2 besteht im Rahmen von Abs. 1 keine Bindung an ein Strafurteil oder die tatsächlichen Feststellungen darin. Der Anspruch auf die Leistung entsteht nicht, so dass er bei der Berechnung der Höchstgrenze nach § 70 nicht mitzuzählen ist.
2.1.1 Vorsätzliche Tötung
Rz. 6
Nur eine vorsätzliche Tötung führt zum Leistungsausschluss. Mit Vorsatz ist der strafrechtliche Begriff gemeint. Demnach liegt Vorsatz vor, wenn der Täter mit Wissen und Wollen bezogen auf den Taterfolg handelt. Dabei reicht es aus, wenn der Täter den Erfolg billigend in Kauf nimmt (dolus eventualis). Diese Fälle sind gegenüber der bloßen Fahrlässigkeit abzugrenzen. Auch durch Unterlassen kann der Täter vorsätzlich handeln, wenn ihm eine Garantenstellung zukommt (§ 13 StGB). Bei einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) richtet sich der Vorsatz nicht auf den tödlichen Erfolg. Der Tod tritt hier nur fahrlässig ein, sodass die Voraussetzungen für den Ausschlusstatbestand nicht gegeben sind. Hauck/Freund (SGB VII, § 101 Rz. 6) will auch die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) wegen Fehlens eines gleichwertigen Unwertgehalts ausnehmen. Diese Auffassung ist abzulehnen, denn Tötung auf Verlangen beinhaltet das aktive vorsätzliche Töten eines Menschen. Für eine teleologische Reduktion des § 101 Abs. 1 ist hier kein Raum (Reyels, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 101 Rz. 25, mit Hinweis auf BSG, Urteil v. 4.12.2014, B 2 U 18/13 R, Rz. 31).
Rz. 6a
Handelt der Täter nicht rechtswidrig, etwa weil ihm ein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht (infolge von Notwehr § 32 StGB oder Notstand § 34 StGB), oder kann ihm kein Schuldvorwurf gemacht werden (z. B. wegen Schuldunfähigkeit § 20 StGB), liegen die Voraussetzungen des Ausschlusstatbestands nicht vor.
Rz. 6b
In diesen Kontext sind auch die Fälle der Sterbehilfe zu setzen. Eine Relevanz im Rahmen des § 101 Abs. 1 besteht nur dann, wenn ein Versicherter durch einen Versicherungsfall so nachhaltig in seiner Gesundheit geschädigt ist, dass ein Akt der Sterbehilfe aus Gründen des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Betracht kommt. Nur dann besteht der notwendige innere Zusammenhang zum Versicherungsfall. Der rechtlich wesentliche Grund für den Tod muss der Versicherungsfall bleiben (BSG, Urteil v. 4.12.2014, B 2 U 18/13 R). Das vorsätzliche Herbeiführen des Todes eines Versicherten führt dann nicht zum Leistungsausschluss, wenn sich das Handeln des Hinterbliebenen nach den Kriterien des Bundesgerichtshofes als straffreie Sterbehilfe darstellt (BSG, Urteil v. 4.12.2014, a. a. O.).
Rz. 6c
Danach ist zu unterscheiden:
- Da die Selbsttötung straffrei ist, ist auch die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei.
- Die aktive Sterbehilfe im Sinne einer gezielten Tötung oder Beschleunigung des Todeseintritts durch aktives Tun – auch im Sinne der Tötung auf Verlangen – ist immer strafbar. Hier geht es nicht um Hilfe, sondern um das Töten (§§ 212, 216 StGB).
- Eine passive Sterbehilfe bei der ein ursächliches Unterlassen den vorzeitigen Todeseintritt bedingt oder eine indirekte Sterbehilfe, bei der der Todeseintritt als sekundäre Folge palliativer, insbesondere schmerz- und angsthemmender...