2.6.1 Grundsatz
Rz. 48
Abs. 6 findet in § 46 Abs. 2a SGB VI eine rentenrechtliche Parallelvorschrift.
Rz. 49
Eine weitere vergleichbare Regelung fand sich noch im Opferentschädigungsrecht des Bundesversorgungsgesetzes in § 38 Abs. 2 BVG in seiner bis zum 31.12.2023 geltenden Fassung. Die Regelung ist allerdings nicht in das Soziale Entschädigungsrecht des SGB XIV übernommen worden. In der einschlägigen Regelung des § 85 SGB XIV (gültig ab 1.1.2024) über die monatliche Entschädigungszahlung an Witwen und Witwer sowie an Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft findet sich keine Regelung mehr über den Ausschluss von Rentenleistungen bei einer Versorgungsehe.
Rz. 50
Auf die Rechtsprechung zu dieser Vorschrift kann aufgrund der gleichen Formulierungen der Vorschriften zurückgegriffen werden.
Rz. 51
Der Begriff "Versorgungsehe" ist gesetzlich weder verwendet noch definiert; entspricht aber dem Sprachgebrauch der gängigen Rechtsprechung sowohl im Renten- als auch im Unfallversicherungsrecht.
Rz. 52
Abs. 6 sieht ebenso wie die Vorgängervorschrift des § 594 RVO und ebenso wie die entsprechenden Regelungen für die Rentenversicherung, das soziale Entschädigungsrecht und das Beamtenrecht vor, dass der Anspruch auf die Hinterbliebenenrente grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn die Ehe erst nach Eintritt des Versicherungsfalles (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) geschlossen wurde und der Tod innerhalb des ersten Ehejahres eintritt. Dahinter steht die Vermutung, dass es sich um eine sog. Versorgungsehe handelt, die allein oder überwiegend deshalb geschlossen wurde, um der Witwe bzw. dem Witwer den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente zu verschaffen. Nur dann, wenn diese Vermutung widerlegt werden kann, besteht gleichwohl Anspruch auf die Hinterbliebenenrente. Um die Vermutung zu widerlegen, müssen besondere Umstände des Einzelfalls erweislich sein, die sich von der Versorgungsabsicht unterscheiden. Die Vorschrift ist nicht verfassungswidrig und verstößt insbesondere nicht gegen Art. 1, 3 und 6 Abs. 1 GG (BSG, Urteil v. 18.7.1974, 5 RKnU 6/73). Sind die besonderen Umstände nicht erweislich, so bleibt es bei dem Grundsatz des Leistungsausschlusses.
2.6.2 Funktion der Vorschrift
Rz. 53
Die Vorschrift des Abs. 6 ist in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aufbaut. Auch eine Versorgungsehe löst grundsätzlich zunächst den Rechtsanspruch aus. Liegen allerdings die Voraussetzungen des Abs. 6 vor, hat die Regelung anspruchsvernichtende Wirkung. Der Aufbau von Abs. 6 hat Einfluss auf die Frage, wen die Beweislast trifft (vgl. die Komm. hier weiter unten).
2.6.3 Voraussetzungen im Einzelnen
Rz. 54
Regelhafte positive Voraussetzungen der anspruchsvernichtende Wirkung einer Versorgungsehe:
- Ehe erst nach dem Versicherungsfall geschlossen und
- Tod ist innerhalb des ersten Jahres dieser Ehe eingetreten.
Rz. 55
Voraussetzung der Widerlegung i. S. einer negativen Anspruchsvoraussetzung ist:
- Besondere Umstände rechtfertigen Annahme, dass
- der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat nicht in der Versorgung liegt.
2.6.3.1 Zeitpunkt des Eheschlusses
Rz. 56
Abs. 6 – also die den Witwenanspruch ausschließende Annahme einer Versorgungsehe – greift nach dem Wortlaut zunächst nur dann, wenn die Ehe erst nach dem Versicherungsfall geschlossen wurde. Eine vor Versicherungsfall geschlossene Eheschließung ist daher unschädlich.
2.6.3.2 Ehedauer
Rz. 57
Die Ehe zwischen der anspruchstellenden Witwe bzw. dem anspruchstellenden Witwer und dem oder der Versicherten muss weniger als ein Jahr gedauert haben. Maßgeblich für den Fristanfang ist der Tag der standesamtlichen Trauung. Es gelten die zivilrechtlichen Regelungen zur Fristbestimmung, also die §§ 187 ff. BGB analog.
2.6.3.3 Besondere Umstände
Rz. 58
Der Begriff der "besonderen Umstände" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die Sozialversicherungsträger und die Gerichte mit einem bestimmten Inhalt auszufüllen ist und dessen Beurteilungsspielraum im konkreten Fall der vollen richterlichen Kontrolle unterliegt (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 55/08 R, Rz. 29; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 12.7.2023, L 5 U 39/18, Rz. 29).
Rz. 59
Als besondere Umstände sind daher alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls anzusehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen.
2.6.3.3.1 Gesamtbetrachtung und Gesamtabwägung
Rz. 60
Die "Annahme" des anspruchsausschließenden Vorliegens einer Versorgungsehe bei einer Ehedauer von nicht mindestens einem Jahr ist nach dem Ausnahmetatbestand des § 63 Abs. 6 HS 2 SGB VI nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder – da der Wortlaut auf den "alleinigen oder überwiegenden Zweck der Heirat" abhebt – zumindest gleichwertig sind.
Rz. 61
Dabei kommt es auf die (ggf. auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielvorstellungen) beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten beispielsweise durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zur Eheschließung veranlasst hat.
Rz. 62
Es is...