Rz. 45
Der Ursachenzusammenhang zwischen den besonderen Einwirkungen und der Krankheit bezieht sich keinesfalls auf einen bestimmten Versicherten (individuelle Kausalität), sondern auf die Personengruppe mit besonderen Einwirkungen und die dadurch verursachte Krankheit (generelle Kausalität). Dieser generelle Ursachenzusammenhang (BSG, Urteil v. 14.11.1996, 2 RU 9/96) muss wissenschaftlich untermauert sein, wobei der Epidemiologie herausragende Bedeutung zukommt. Denn Ursache-Wirkungs-Beziehungen können häufig nur statistisch in epidemiologischen Verfahren aufgedeckt werden, zu denen die Fall-Kontroll-Studien und die Kohortenstudien zählen. Weitere Erkenntnisquellen sind Einzelfallstudien, Anerkennungen nach § 9 Abs. 2, nationale und internationale Fachveröffentlichungen oder vergleichbare Regelungen in anderen Staaten (Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 103). Fall-Kontroll-Studien untersuchen, ob und wie Einwirkungen und Zielerkrankung miteinander verknüpft sind. Hierfür werden Patienten erfasst, die an der Zielerkrankung leiden (Fallgruppe). Zur Kontrollgruppe zählen gesunde Personen, die den Erkrankten möglichst ähnlich sind (bezüglich Geschlecht, Alter, Begleiterkrankungen usw.).
Rz. 46
Anschließend wird untersucht, wie viele "Kranke" und wie viele "Gesunde" dem Schadstoff in welcher Weise ausgesetzt waren. Ist die Zahl der Exponierten in der Fallgruppe größer als in der Kontrollgruppe, so ist die Assoziation zwischen Einwirkung und Zielerkrankung positiv. Entscheidend für die Aussagekraft einer Fall-Kontroll-Studie sind Zusammensetzung und Vergleichbarkeit der Kontrollgruppe. Häufig ist die Fall-Kontroll-Studie die einzige Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen einem Risikofaktor und dem daraus resultierenden Schaden nachzuweisen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Zielkrankheit sehr selten auftritt oder die Zeit zwischen der Einwirkung (z. B. Asbest) und dem Auftreten der vermuteten Erkrankung (z. B. Pleuramesotheliom) lange dauert. Bei Kohortenstudien werden Personen, die einem Schadstoff ausgesetzt sind, und Personen, die mit diesem Schadstoff nicht in Berührung kommen, in verschiedene Gruppen (Kohorten) eingeteilt. Beide Gruppen werden über einen gewissen Zeitraum beobachtet (Follow-up), um zu untersuchen, wie viele Personen aus beiden Gruppen eine bestimmte Erkrankung entwickeln (Inzidenzstudie) oder versterben (Mortalitätsstudie).
Rz. 47
Auf der Grundlage epidemiologischer Beobachtungen lassen sich Erkrankungsrisiken für die Gruppe (das Kollektiv) der exponierten und der nicht exponierten Personen ermitteln. Das relative Risiko (r) beschreibt das Verhältnis der Erkrankten in den jeweiligen Gruppen. Ist die Erkrankungsrate in beiden Gruppen gleich groß, so ergibt das relative Risiko 1, und es besteht kein Zusammenhang zwischen der Exposition und der Erkrankung. Dasselbe gilt, wenn r kleiner als 2 ist. Beträgt das relative Risiko dagegen 10 oder mehr, hängt der Faktor sicher mit der Krankheit zusammen (vgl. Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 8.2). Maßgebend für die Zusammenhangsbeurteilung ist das zurechenbare Risiko (z), also der Prozentsatz, um den die Häufigkeit einer Erkrankung in der exponierten Gruppe ansteigt. Das zurechenbare Risiko wird ermittelt aus dem Verhältnis der zusätzlichen Erkrankungsfälle zu den Erkrankungsfällen in der exponierten Gruppe [z = 100 × (r – 1) : r]. Beträgt das relative Risiko 2, so errechnet sich ein zurechenbares Risiko von 50 %. Dieser Prozentsatz sagt aber allein noch nichts über die Kausalität zwischen dem Schadstoff und der Erkrankung aus. Stattdessen müssen weitere Kriterien hinzukommen, wie z. B. die statistische Signifikanz, die Stärke der Assoziation, die biologische Plausibilität und die Konsistenz der Ergebnisse verschiedener Studien (Koch, in: Lauterbach, UV, § 9 Rz. 264; ders., in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 2 Unfallversicherungsrecht, § 37 Rz. 6; vgl. etwa die Kriterien der International Agency for Research of Cancer [IARC]). Diesen komplexe Abwägungs- und Bewertungsprozess muss der Verordnungsgeber durchführen.