Rz. 51
Ist die Aufnahmeschwelle überschritten und sind die Ermächtigungsvoraussetzungen erfüllt, entscheidet der Verordnungsgeber nach seinem normativen Ermessen ("wird ermächtigt" und "kann dabei bestimmen"), ob er das Leiden in die Berufskrankheitenliste aufnimmt (Entschließungsermessen). Er hat dabei zu erwägen, ob sich die berufsbedingte Krankheit von Allgemeinerkrankungen hinreichend sicher abgrenzen lässt, wie sich die Risiken im gegliederten Sozialversicherungssystem verteilen, wie schwer die Krankheit in aller Regel verläuft und wie lange sie durchschnittlich dauert. Kurzerkrankungen, die in aller Regel weniger als 26 Wochen dauern, kann er ermessensfehlerfrei als Berufskrankheiten ablehnen, selbst wenn sie auf beruflichen Einwirkungen beruhen. Dem sozialen Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung entspricht es auch, eine Krankheit, die lediglich zu geringfügigen Funktionseinbußen führt, nicht als Berufskrankheit zu bezeichnen (BSG, Urteil v. 11.1.1989, 8 RKnU 1/88). Denn solche Bagatellerkrankungen können die Erwerbsfähigkeit nicht in rentenpflichtigendem Grade mindern. Der Verordnungsgeber kann aber auch Listenvorbehalte vorsehen, in denen er die Berufskrankheiten auf schwere Verlaufsformen beschränkt, bestimmte Anforderungen an Art und Umfang der Einwirkungen stellt oder einen Unterlassungszwang vorsieht (Auswahlermessen). Je einfacher ein berufsbedingtes Leiden von einer Allgemeinerkrankung abgegrenzt werden kann, desto geringer ist der Ermessensspielraum. Ist die Einwirkung arbeitsspezifisch und das Leiden einwirkungsspezifisch, reduziert sich das Ermessen auf die Frage, ob die Krankheit ausreichend schwer ist oder ob sie als Bagatellerkrankung durch die gesetzliche Krankenversicherung entschädigt werden muss. Liegen die Ermächtigungsvoraussetzungen vor, ist die Erkrankung ausreichend schwer und von Allgemeinerkrankungen hinreichend abgrenzbar, reduziert sich das Ermessen des Verordnungsgebers auf Null, und er muss das Leiden in die Berufskrankheitenliste aufnehmen (BSG, Urteile v. 26.1.1978, 2 RU 27/77; v. 29.10.1981, 8/8a RU 82/80).
Ansonsten besteht ein fachlicher und sozialpolitischer Bewertungsspielraum (BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 9.10.2000, 1 BvR 791/95; BSG, Urteile v. 23.3.1999, B 2 U 12/98 R; v. 18.3.2003, B 2 U 13/02 R), der jedoch keine "beliebige politische Willensentscheidung nach Nützlichkeit oder sozialer Wünschbarkeit" erlaubt. Fehlen deutliche Hinweise für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankung oder entscheidet der Verordnungsgeber willkürlich, so überschreitet er die Grenzen seines Ermessens (Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 93).