Leitsatz
1. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i .S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
2. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
3. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie – was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt – ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.
Normenkette
§ 198 Abs. 1 GVG, § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 90 Abs. 2, § 90a Abs. 1 FGO
Sachverhalt
Das finanzgerichtliche Verfahren, mit dem der Entschädigungskläger E die Herabsetzung seiner USt begehrte, begann im Januar 2018. Im Januar 2020 erhob E eine Verzögerungsrüge. Der Berichterstatter forderte im Januar 2020 Unterlagen an, die ihn im Februar 2020 erreichten. Im Juli 2020 wurde zur mündlichen Verhandlung im August 2020 geladen, aufgrund derer die Klage abgewiesen wurde (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.8.2020, 5 K 5009/18, Haufe-Index 13925097). E beantragt eine Entschädigung i.H.v. 600 EUR für das von ihm als überlang angesehene finanzgerichtliche Verfahren.
Entscheidung
Der BFH hat die Entschädigungsklage aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen abgewiesen.
Hinweis
1. Seit 2012 kann ein Verfahrensbeteiligter Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens erhalten. Das zuständige Gericht für die Entschädigung wegen der überlangen Verfahrensdauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens ist der BFH.
2. Nach dessen gefestigter Rechtsprechung wird bei einem typischen finanzgerichtlichen Verfahren vorbehaltlich der Besonderheiten des Einzelfalls im Regelfall eine entschädigungspflichtige Verzögerung vermutet, wenn der Finanzrichter nicht gut zwei Jahre nach Eingang der Klage konsequent auf deren Erledigung hinwirkt.
3. Die Entschädigungsverpflichtung des Staates ist verschuldensunabhängig. Es bedarf weder eines pflichtwidrigen Verhaltens des einzelnen Richters noch eines Organisationsverschuldens der Gerichtsleitung oder des zuständigen Justizministeriums. Der Entschädigungsanspruch setzt aber voraus, dass die verfahrensverzögernden Umstände zumindest innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen.
4. Zu diesen Umständen gehören nicht die Einschränkungen des Gerichtsbetriebs aufgrund der staatlichen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die im Zeitpunkt des Ausbruchs dieses beispiellosen und nicht vorhersehbaren Ereignisses eingetretenen Verzögerungen sind weder justizspezifisch noch können sie dem Staat zugerechnet werden. Daher können sie auch nicht zu einer Entschädigung führen.
5. Diese BFH-Entscheidung ist zur spezifischen Situation des Pandemiebeginns im ersten Halbjahr 2020 ergangen. Ab wann sich die Justizverwaltung auf die durch die Corona-Pandemie bestimmte Situation einstellen und den Gerichtsbetrieb anpassen musste, um eine unangemessen lange Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens im Einzelfall zu vermeiden, hatte der BFH (noch) nicht zu entscheiden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20