Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG ist auch in den Veranlagungszeiträumen seit 1994 nicht verfassungswidrig.
Normenkette
§ 20 Abs. 1 Nrn. 6 und 7, Abs. 4, § 24c, § 45d EStG; Art. 3 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Die Kläger – Eheleute – wurden für die Streitjahre 1994, 1995, 2000 und 2001 zusammen zur ESt veranlagt. Sie erzielten u.a. Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 6 und Nr. 7 EStG, die das FA in den angefochtenen ESt-Bescheiden der Besteuerung unterwarf.
Die Kläger machten geltend, dass die Zinsbesteuerung verfassungswidrig sei. Das FG wies die Klage als unbegründet ab.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision im Wesentlichen aus den in den Praxis-Hinweisen genannten Gründen zurück. Zumindest für VZe bis einschließlich 1997 sei der Gesetzgeber berechtigt gewesen, die tatsächliche Wirkung des durch das Zinsabschlagsgesetz geänderten Erhebungsverfahrens abzuwarten und die weitere Entwicklung zu beobachten. Soweit sich ein Anlass zur Nachbesserung ergeben habe, sei er seiner Verantwortung für die VZe ab 1998 gerecht geworden. Damit sei die Besteuerung der Kapitaleinkünfte seit 1994 verfassungsgemäß.
Hinweis
Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann die gesetzliche Besteuerungsgrundlage verfassungswidrig sein, wenn die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt wird (sog. strukturelles Erhebungsdefizit; vgl. BVerfGE, Urteile vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89 BVerfGE 84, 239, 268 ff. und vom 9.3.2004, 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, 112 ff. – sog. Spekulationsurteil).
Unter diesem Gesichtspunkt hatte der BFH bereits für das Jahr 1993 auch die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung der Kapitaleinkünfte nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG zu prüfen (BFH, Urteile vom 18.2.1997, VIII R 33/95 BStBl II 1997, 499 und vom 15.12.1998, VIII R 6/98, BStBl II 1999, 138). Er hielt die Besteuerung für verfassungsgemäß. Das vorliegende Urteil betrifft die Jahre 1994, 1995, 2000 und 2001 und enthält – außer der Bezugnahme auf die nach diesen Urteilen maßgeblichen rechtlichen Gesichtpunkten – weitere Ausführungen zu der Frage, wann ein strukturelles Erhebungsdefizit vorliegt und was von der Finanzverwaltung vernünftigerweise an Nachbesserungsversuchen verlangt werden kann. Insoweit ist der Finanzverwaltung ein Prognosespielraum eingeräumt (vgl. u.a. das BVerFG im Spekulationsurteil in BVerfGE 110, 141, 157).
Eine solche Prognose war in den Streitjahren hinsichtlich der Neuregelung des Erhebungsverfahrens durch das Zinsabschlagsgesetz und der Maßnahmen zu einer gegenüber der bisherigen Praxis intensiveren Überprüfung der Steuererklärungen vorzunehmen. Dabei wird man über mehrere Jahre abwarten müssen, wie sich die Neuregelung in der Praxis auswirkt; die Prognose umfasst damit nicht nur die Streitjahre, sondern darüber hinaus den gesamten Zeitraum ab In-Kraft-Treten des Zinsabschlagsgesetzes (1993) bis zum VZ 2005. Ergänzend sind alle Nachbesserungen zu berücksichtigen, die der Gesetzgeber in diesem Zeitraum vorgenommen hat (insbesondere die Möglichkeit zur Überprüfung der Freistellungsaufträge nach § 45d EStG, die Einführung der Bescheinigungspflicht der Kreditinstitute nach § 24c EStG ab 2004 und das Abfragen der Stammdaten des Steuerpflichtigen gem. §§ 93 Abs. 7 und 8, 93b AO). Danach ist dem Gesetzgeber eine hinreichende Aktivität zur Behebung des Vollzugsdefizits zu bescheinigen.
Hinzuweisen ist noch darauf, dass sich die Frage nach dem Erhebungsdefizit im Wesentlichen nur für die Kapitaleinkünfte i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG stellt, also vor allem für Bankeinlagen und auch hier nur für im Inland bezogene Einkünfte; für Auslandseinkünfte lehnt der BFH erneut die Verantwortlichkeit des Gesetzgebers für die Nichtüberprüfbarkeit des Erklärungsverhaltens wegen des Territorialprinzips ab (vgl. auch das Spekulationsurteil des BVerfG, das für diesen Fall die strafprozessualen Maßnahmen für ausreichend hält).
Für Dividenden (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG) und für Erträge aus Lebensversicherungen (§ 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG) stellt sich die Frage nach einem Erhebungsdefizit nicht; bei Dividenden ist die Steuerhinterziehung wegen der Gesamtsteuerbelastung mit anrechenbarer KSt und KapESt, die mit 52 % nahezu den früheren Spitzensatz erreicht, ganz überwiegend uninteressant und Lebensversicherungsunternehmen müssen die Verträge nach § 29 EStDV dem FA anzeigen und bei steuerpflichtigen Erträgen KapESt einbehalten.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 7.9.2005, VIII R 90/04