Kein strukturelles Vollzugsdefizit bei bargeldintensiven Betrieben
Hintergrund: Gaststätte als bargeldintensiver Geschäftsbetrieb
Die X-KG betreibt mehrere Gaststätten. Im Rahmen der Veranlagung für 2015 trug sie vor, bei bargeldintensiven Betrieben wie Gaststätten würden mindestens 15 % der Betriebseinnahmen hinterzogen. Es liege ein strukturelles Vollzugsdefizit vor, das zu einer ungleichmäßigen Besteuerung führe. Die Besteuerung ihrer Bareinnahmen in vollen Umfang verstoße daher gegen den Gleichheitssatz.
Das FG wies die Klage gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 2015 ab. Die Gleichheit im Belastungserfolg werde aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung des Erhebungsverfahrens nicht prinzipiell verfehlt.
Entscheidung: Kein strukturelles Vollzugsdefizit
Auch die Revision blieb ohne Erfolg. Ein zur (partiellen) Nichtigkeit der steuerlichen Regelung führendes strukturelles Vollzugsdefizit besteht nicht.
Grundsatz der Lastengleichheit
Mängel im Vollzug der Steuergesetze, wie sie immer wieder vorkommen, führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm. Verfassungsrechtlich verboten ist allerdings der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Die empirische Ineffizienz einer Rechtsnorm führt nicht bereits zur Gleichheitswidrigkeit, sondern erst das normative Defizit des (widersprüchlich) auf Ineffektivität angelegten Rechts. Der Gesetzgeber ist somit verpflichtet, das Gesetz in ein normatives Umfeld einzubetten, das die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet. Im Veranlagungsverfahren bedeutet das die Ergänzung des Deklarationsprinzips durch das Verifikationsprinzip (BVerfG v. 9.3.2004, 2 BvL 17/02, BStBl II 2005, 56, betr. Spekulationsgeschäfte).
Betrachtung des Regelfalls
Für die Prüfung, ob normative Defizite einen gleichmäßigen Belastungserfolg verhindern, ist auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen. Wenn die Finanzverwaltung wegen einer bestimmten materiellen Norm generell verschärft prüfen muss, um überhaupt einen annähernd gleichmäßigen Belastungserfolg zu erreichen, kann dies Indiz für defizitäre Erhebungsstrukturen sein. Die Form der Steuererhebung und das behördliche Kontrollinstrumentarium müssen der materiellen Steuernorm so entsprechen, dass deren gleichheitsgerechter Vollzug im Massenverfahren der Veranlagung ohne unverhältnismäßige Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen oder übermäßigen Ermittlungsaufwand der Finanzbehörden möglich ist.
Kein strukturelles Vollzugsdefizit im Streitjahr (2015)
Trotz bestehender Probleme bei der Erhebung und Verifikation der Besteuerungsgrundlagen im Bereich der bargeldintensiven Geschäftsbetriebe, insbesondere in der Gastronomie, besteht für 2015 kein struktureller, dem Gesetzgeber zuzurechnender Erhebungsmangel. Dafür sind folgende Gesichtspunkte beachtlich:
- Bereits in 2015 galten für bargeldintensive Betriebe (auch in der Gastronomie) umfangreiche Erklärungs-, Anzeige-, Aufzeichnungs- und Beleg-Aufbewahrungspflichten, die zur Verifikation (z.B. im Rahmen von Außenprüfungen) herangezogen werden können.
- Es bestand auch bereits in 2015 ein erhöhtes Entdeckungsrisiko selbst für bargeldintensive Betriebe mit offener Ladenkasse. Die Finanzverwaltung konnte ohne weiteres bargeldintensive Betriebe verstärkt prüfen und Manipulationen bei Betrieben mit offener Ladenkasse aufzudecken (z.B. Chi-Quadrat-Test, Verprobung anhand der Vorjahre und der Richtsätze, Auswertung von Kontrollmitteilungen, Kassennachschau, Kassensturz).
- Selbst wenn man davon ausgeht, dass im Streitjahr ein (tatsächliches) Vollzugsdefizit bestanden hat, ist ein solches dem Gesetzgeber jedenfalls nicht zuzurechnen. Denn die im Streitjahr geltenden Normen waren - anders als in den vom BVerfG entschiedenen Fällen zur Zinsbesteuerung und zu den Spekulationsgeschäften - nicht widersprüchlich auf Ineffektivität angelegt. Die Erhebungsregeln waren jedenfalls nicht derart ineffektiv, dass ein Unterlassen weiterer Regelungen bezüglich der Besteuerung von Betrieben mit offener Ladenkasse im Bereich der Gastronomie dem Gesetzgeber bereits für das Streitjahr als strukturelles Vollzugsdefizit angelastet werden könnte.
- Es kann dahinstehen, ob jenseits eines normativen Erhebungsdefizits ein verfassungsrechtlich bedeutsames strukturelles Vollzugsdefizit auch darin bestehen kann, dass die Besteuerung aus politischen Gründen nicht vollzogen wird (vgl. BFH v. 29.11.2005, IX R 49/04, BStBl II 2006, 178; BFH v. 19.12.2007, IX B 219/07, BStBl II 2008, 382). Denn Anhaltspunkte für ein solches Vollzugsdefizit sind nicht ersichtlich.
Hinweis: Vollzugsprobleme bei Betrieben mit offenen Ladenkassen
Auch wenn der BFH für 2015 kein strukturelles Vollzugsdefizit im Bereich der bargeldintensiven Betriebe mit offener Ladenkasse anerkennt, hebt er gleichwohl hervor, dass in diesem Bereich – insbesondere in der Gastronomie - offensichtlich tatsächliche Vollzugsprobleme bestehen. Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, diesen Bereich besonders zu beachten und zeitnah zu prüfen, ob die seit 2016 ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen (§§ 146a, 146b AO) zu einer Verbesserung des Vollzugs geführt haben. Gelegentlich wird von einer "Flucht in die offene Ladenkasse" gesprochen. Bei der Evaluierung kann auch die fortschreitende Digitalisierung zu berücksichtigen sein.
Keine "Gleichheit im Unrecht"
Die X wollte im Ergebnis so behandelt werden wie Gewerbetreibende, die unter Manipulation der Kassendaten gesetzlich geschuldete Steuern hinterziehen. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht und damit auf Wiederholung des Fehlers in der Rechtsanwendung gibt es jedoch nicht.
BFH Urteil vom 16.09.2021 - IV R 34/18 (veröffentlicht am 16.12.2021)
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