Leitsatz
Ein mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer der angefochtenen Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründeter Antrag auf AdV ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls dem Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kein Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bedarf es in diesen Fällen grundsätzlich nicht.
Normenkette
§ 5 KernbrennStG, § 69 FGO, § 32 Abs. 1 BVerfGG
Sachverhalt
In einem Atomkraftwerk wurden 2011 neue Brennstäbe eingesetzt und eine Kettenreaktion ausgelöst. Dadurch entsteht nach § 5 Abs. 1 KernBrennStG Kernbrennstoffsteuer. Der Kraftwerksbetreiber gab deshalb eine Steueranmeldung ab und zahlte die Steuer. Er erhob jedoch zugleich Sprungklage und beantragte Aufhebung der Vollziehung der Steueranmeldung. Das HZA hat der Sprungklage nicht zugestimmt, sondern eine Einspruchsentscheidung erlassen. Bereits zuvor hatte jedoch das wegen der AdV angerufene FG die Vollziehung aufgehoben (FG Hamburg, Urteil vom 16.9.2011, 4 V 133/11, Haufe-Index 2756884, EFG 2011, 2103). Gegen diesen Beschluss wurde vom HZA die vom FG zugelassene Beschwerde zum BFH eingelegt.
Entscheidung
Der BFH hat die Entscheidung des FG aufgehoben und AdV abgelehnt. Bereits zuvor hatte er durch Zwischenbeschluss entschieden, dass die Beschwerde zulässig ist. Denn die AdV wirke ungeachtet einer fehlenden diesbezüglichen Klarstellung in dem Beschluss des FG über die Einspruchsentscheidungen hinaus bis zum Abschluss des Verfahrens erster Instanz.
Hinweis
1. AdV ist bekanntlich zu gewähren, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung (hier durch Steueranmeldung) bestehen. In diesem Fall ist ungeachtet des der Behörde und dem Gericht eröffneten Ermessens grundsätzlich AdV zu gewähren; es handelt sich also um sogenanntes intendiertes Ermessen.
Gilt das aber uneingeschränkt auch dann, wenn sich die ernstlichen Zweifel nicht aus der Gesetzesanwendung des Steuerbescheids auf den Einzelfall ergeben, sondern die Verfassungsmäßigkeit des ihm zugrunde liegenden Gesetzes betreffen? AdV zu gewähren, würde in einem solchen Fall im praktischen Ergebnis der Aussetzung der Vollziehung des Gesetzes gleichkommen!
Das muss bei der Ausübung des Anordnungsermessens berücksichtigt werden.
Das BVerfG setzt die Vollziehung eines Gesetzes grundsätzlich nur dann aus, wenn durch den sofortigen Vollzug Tatsachen geschaffen würden, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen, oder wenn jedenfalls der Vollzug größere Probleme bereiten würde als die vorläufige Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes. Es entscheidet also grundsätzlich ungeachtet einer vorläufigen Bewertung der Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes.
Kann das Fachgericht AdV nach großzügigeren Maßstäben gewähren als das BVerfG? Das wäre ein merkwürdiges Ergebnis!
Die Besprechungsentscheidung hat deshalb AdV zu gewähren abgelehnt. Sie hat damit die in gewissem Umfang herausgehobene Stellung der dritten Gewalt (Gesetzgebung) betont, die darin ihren Ausdruck findet, dass deren Rechtsakte nur vom BVerfG im Verfahren nach Art. 100 GG als nichtig verworfen werden dürfen.
In der Vergangenheit haben sich solche Zurückhaltung gegenüber den Gesetzen insbesondere der VI. und der IX. Senat des BFH weniger angelegen sein lassen. Vielleicht wird die Besprechungsentscheidung insofern zu größerer Nachdenklichkeit gegenüber einem zu ungezügelten richterlichen Selbstbewusstsein im AdV-Verfahren beitragen.
2. Solche Zurückhaltung gebührt freilich nur den "ordnungsgemäß zustande gekommenen" Gesetzen. Diese Einschränkung ist schon der bisherigen Rechtsprechung des BFH geläufig gewesen. Sie meint allerdings nicht die sogenannte formelle Verfassungsmäßigkeit, insbesondere nicht das Bestehen einer Gesetzgebungskompetenz für das Gesetz, sondern das, was Art. 78 GG regelt: dass das Gesetz vom Bundestag unter Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrats beschlossen worden ist (was übrigens durch die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten beurkundet wird).
3.Vielleicht wäre solche Zurückhaltung bei der AdV aufgrund verfassungsrechtlicher Zweifel auch dann nicht geboten, wenn die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes diesem gleichsam auf die Stirn geschrieben ist. Das lässt sich aber bei dem Kernbrennstoffsteuergesetz schwerlich sagen, dessen Verfassungsmäßigkeit unter dem Gesichtspunkt der vom Gesetzgeber in Anspruch genommenen Gesetzgebungskompetenz (Verbrauchsteuer?) zwar nicht völlig unproblematisch ist, aber auch hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit im Schrifttum ganz überwiegend auf der Grundlage eingehender diesbezüglicher Erwägungen bejaht wird!
4. Bis die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes endgültig geklärt ist, wird einige Zeit vergehen. Man wird zunächst abwarten müssen, ob das FG Hamburg, aber auch das FG München ihre im AdV-Verfahren geäußerten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes na...