Leitsatz
1. Ruft ein FG das BVerfG an oder richtet es an den EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen, entfalten diese Vorlagen im Hinblick auf das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Verwaltungsentscheidung für den BFH keine Bindungswirkung.
2. Ein Antrag auf AdV, der mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit oder Unionsrechtskonformität des der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Gesetzes begründet wird, ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls dem erforderlichen besonderen Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kein Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit oder Unionsrechtskonformität bedarf es in diesen Fällen grundsätzlich nicht. Dem Aufhebungsinteresse des Antragstellers ist nicht allein aufgrund der Befassung des BVerfG oder des EuGH der Vorrang einzuräumen.
Normenkette
§ 5 Abs. 1 KernbrStG, § 69 Abs. 3 FGO, § 32 Abs. 1 BVerfGG
Sachverhalt
Die Antragstellerin betreibt ein Kernkraftwerk. Nachdem sie in den Kernreaktor Brennelemente eingesetzt und anschließend eine selbsttragende Kettenreaktion ausgelöst hatte, was zur Entstehung der Kernbrennstoffsteuer nach § 5 Abs. 1 KernbrStG führte, gab sie für den Monat, in dem die Steuer entstanden war, eine Steueranmeldung ab und entrichtete die berechnete Steuer. Der Einspruch hatte keinen Erfolg, worauf die Antragstellerin Klage erhob und einen AdV-Antrag stellte.
Der Antrag hatte zwar in erster Instanz wegen auf Seiten des FG bestehender Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Erfolg, wurde jedoch auf die Beschwerde des HZA vom BFH abgelehnt (Beschluss vom 9.3.2012, VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl II 2012, 418).
Nachdem das FG in der Folgezeit die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes dem BVerfG und in einem Parallelverfahren die Frage der Vereinbarkeit des Gesetzes mit unionsrechtlichen Richtlinien dem EuGH vorgelegt hatte, stellte die Antragstellerin erneut einen AdV-Antrag, den das FG wegen veränderter Umstände i.S.d. § 69 Abs. 6 FGO als zulässig ansah und dem es ohne Anordnung einer Sicherheitsleistung entsprach (FG Hamburg, Urteil vom 11.4.2014, 4 V 154/13, Haufe-Index 6758267, EFG 2014, 1172).
Entscheidung
Aus den in den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen hat der BFH auf die Beschwerde des HZA die Vorentscheidung aufgehoben und den Antrag auf AdV abgelehnt.
Hinweis
Die Verfassungsmäßigkeit des mit Wirkung vom 1.1.2011 eingeführten Kernbrennstoffsteuergesetzes (KernbrStG) ist in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft umstritten. Das FG meint, dem Bund habe die Gesetzgebungskompetenz gefehlt, weil es sich bei der Kernbrennstoffsteuer nicht um eine Verbrauchsteuer handele, und hat das Gesetz gemäß § 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt (FG Hamburg, Beschluss vom 29.1.2013, 4 K 270/11). In einem Parallelverfahren hat das FG außerdem Zweifel geäußert, ob das Gesetz mit unionsrechtlichen Richtlinien im Einklang steht, und hat den EuGH um Vorabentscheidung ersucht (FG Hamburg, Beschluss vom 19.11.2013, 4 K 122/13, Haufe-Index 6420199).
Unter Hinweis auf diese Vorlagebeschlüsse hat das FG im Streitfall die Vollziehung eines Steuerbescheids über die Festsetzung von Kernbrennstoffsteuer (Steueranmeldung) aufgehoben (ebenso in mehreren Fällen von anderen Kraftwerkbetreibern abgegebener Steueranmeldungen).
Im Beschwerdeverfahren hat der BFH die (wegen eines früheren AdV-Verfahrens zu prüfenden) Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 69 Abs. 6 FGO jedenfalls im Hinblick auf die nunmehr hinzugetretene EuGH-Vorlage des FG als gegeben angesehen.
Darüber hinaus war zu entscheiden, ob es für die AdV des Steuerbescheids unter den besonderen Umständen des Streitfalls genügen kann, dass die Kernbrennstoffsteuer betreffende verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Fragen dem BVerfG bzw. dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt worden sind. Der BFH hat dies verneint und hat des Weiteren betont, an die in den Vorlagebeschlüssen des FG geäußerten rechtlichen Zweifel nicht gebunden zu sein. Zu der Frage, ob er die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids aus den vom FG angeführten Gründen ebenfalls für ernstlich zweifelhaft hält, hat sich der BFH allerdings nicht geäußert.
Für den BFH war der Umstand von Bedeutung, dass es im Streitfall nicht um die rechtlich zweifelhafte Anwendung einer steuerrechtlichen Vorschrift im Einzelfall geht, sondern die auf verfassungs- bzw. unionsrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung gestützte AdV in ihrer praktischen Folge einer vorläufigen Außervollzugsetzung des kompletten Kernbrennstoffsteuergesetzes bis zur (in zeitlicher Hinsicht nicht absehbaren) Entscheidung in der Hauptsache gleichkommt.
Das allein über eine Verwerfungskompetenz verfügende BVerfG stellt allerdings, soweit es selbst nach § 32 BVerfGG einstweilige Anordnungen treffen kann, strenge Anforderungen an die vorläufige Außervollzugsetzung eines Gesetzes. Für das Verfahren des ein...