Leitsatz
Ein Anspruch auf Prozesszinsen besteht nicht, wenn eine Steuerherabsetzung erst nach Beendigung der Rechtshängigkeit des finanzgerichtlichen Verfahrens aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks erfolgt, der im Laufe des finanzgerichtlichen Verfahrens angebracht worden war.
Normenkette
§ 233 Satz 1, § 236 AO
Sachverhalt
Die Klägerin ist Alleinerbin der A, mit der sie 2002 eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen war. Das FA setzte gegen die Klägerin im Jahr 2005 nach Maßgabe des ErbStG in der 2004 geltenden Fassung Erbschaftsteuer unter Zugrundelegung der Steuerklasse III fest. Im anschließenden Klageverfahren erklärte das FA die Steuerfestsetzung im Hinblick auf eine beim BVerfG anhängige, die Verfassungsmäßigkeit der Erbschaftsbesteuerung eingetragener Lebenspartnern betreffende Verfassungsbeschwerde, in vollem Umfang für vorläufig (§ 165 Abs. 1 AO). Daraufhin erklärten die Beteiligten das Klageverfahren im Jahr 2007 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt.
Nachdem das BVerfG durch Beschluss vom 21.7.2010, 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07 (BVerfGE 126, 400) die Erbschaftsbesteuerung eingetragener Lebenspartner für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt und der Gesetzgeber daraufhin durch Neufassung des § 15 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG rückwirkend die Erwerbe eingetragener Lebenspartner der Steuerklasse I zugeordnet hatte, setzte das FA die Erbschaftsteuer im Jahr 2011 auf 0 EUR herab und erstattete der Klägerin die überzahlte Steuer.
Den Antrag der Klägerin auf Festsetzung von Prozesszinsen auf den Erstattungsbetrag lehnte das FA ab. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage hatte Erfolg (Niedersächsisches FG, Urteil vom 21.7.2011, 3 K 203/11, Haufe-Index 2762744, EFG 2011, 2041).
Entscheidung
Dem ist der BFH nicht gefolgt. Er hat das FG-Urteil aus den vorstehenden Gründen aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Hinweis
Der Besprechungsfall betrifft eine nicht ganz ungewöhnliche Prozesssituation: Im Verlauf eines Klageverfahrens gegen einen Steuerbescheid wird bekannt, dass zu einer entscheidungserheblichen Frage ein Verfahren z.B. beim BVerfG anhängig ist. Das FA erlässt daraufhin einen Vorläufigkeitsvermerk; anschließend wird der Rechtsstreit durch Hauptsacheerledigungserklärung beendet. Kommt es im Parallelverfahren zu einer für den Steuerpflichtigen positiven Entscheidung und daraufhin – aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks – zur Änderung des Bescheids und zur Steuererstattung, stellt sich die Frage, ob Prozesszinsen (§ 236 AO) beansprucht werden können. Dies hat der BFH verneint.
1. Ein Anspruch auf Prozesszinsen entsteht nicht schon mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit, sondern (im Fall des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO) erst mit Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bzw. (im Fall des § 236 Abs. 2 AO)mit Unanfechtbarkeit des Bescheids, durch den sich der Rechtsstreit nach Rechtshängigkeit erledigt hat.
Dabei wird die Steuer gem. § 236 Abs. 1 AO nur dann "durch" oder "aufgrund" einer gerichtlichen Entscheidung herabgesetzt, wenn der angestrengte Rechtsstreit kausal für die Steuererstattung war. Daran fehlt es, wenn Grundlage der Steuerherabsetzung nicht das bereits in der Hauptsache erledigte finanzgerichtliche Verfahren, sondern ein im Verlauf dieses Verfahrens ergangener Vorläufigkeitsvermerk ist.
2. Hilfe könnte dem Steuerpflichtigen daher nur durch § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO zuteil werden. Diese Bestimmung soll dem FA die Möglichkeit nehmen, mit einer Änderung des angefochtenen Bescheids vor Ergehen der gerichtlichen Entscheidung dem Entstehen von Prozesszinsen zu entgehen.
Die entscheidende Frage ist daher, ob es für einen Zinsanspruch ausreicht, wenn zwar die Steuerherabsetzung außerhalb eines lange zuvor erledigten Klageverfahrens eintritt, doch das letztlich die Steuerherabsetzung auslösende Ereignis im gerichtlichen Verfahren "erstritten" wurde. Dies muss verneint werden: Ist eine Steuererstattung nur mittelbare Folge einer gerichtlichen Entscheidung oder hat das rechtshängig gemachte Verfahren nur eine Mitursache für die spätere Steuerherabsetzung gesetzt, scheidet ein Zinsanspruch aus. Eine analoge Anwendung von § 236 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 AO kommt nicht in Betracht, weil keine planwidrige Regelungslücke vorliegt.
3. Die Entscheidung macht deutlich, dass Steuerpflichtigen bei zu "frühzeitiger" Hauptsacheerledigung im Blick auf mögliche Prozesszinsen Nachteile drohen. Eindeutig vorzugswürdig gegenüber der Hauptsacheerledigung ist daher eine Verfahrensaussetzung gem. § 74 FGO, weil diese nicht die Rechtshängigkeit der Klage beseitigt und damit auch die Chance auf Prozesszinsen bei späterer Steuerherabsetzung wahrt. Deshalb muss vor Abgabe der Hauptsacheerledigungserklärung sorgfältig geprüft werden, ob eine Verfahrensaussetzung in Betracht kommt. Jedenfalls entfällt das – für eine Verfahrensaussetzung unabdingbare – Rechtsschutzinteresse für eine Klage nicht allein deshalb, weil das FA erst im Klageverfahren den angefochtenen Bescheid wegen durch die Klage aufgeworfener verfassungsrechtlicher S...