Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Beiordnung des Wahlverteidigers, der zuvor die Entbindung des Pflichtverteidigers erschlichen hatte
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Legt ein Angeklagter verfristet die sofortige Beschwerde gegen die Versagung der Beiordnung seines Wahlverteidigers ein, so ist ihm gegebenenfalls von Amts wegen Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn aufgrund des Hauptverhandlungsprotokolls davon auszugehen ist, dass er nicht über das fristgebundene Rechtsmittel belehrt worden ist.
2. Hat der Pflichtverteidiger im Hinblick auf § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO nach Erscheinen eines Wahlverteidigers um seine Entpflichtung gebeten, so begründet dies keinen "konsensualen Verteidigerwechsel", wenn der eintretende Wahlverteidiger den geheimen Vorbehalt hat, nach Ausscheiden des bisherigen Pflichtverteidigers seine Beiordnung zu beantragen, weil er die Verteidigung nur als Pflichtverteidiger führen will.
3. Im Falle der Beendigung des Mandats des Wahlverteidigers kommt es grundsätzlich nicht in Betracht, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Vielmehr wird regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen sein (Anschluss an BGH StraFo 2008, 505 und OLG Bamberg, Beschluss vom 8. April 2021 - 1 Ws 195/21 - [juris]).
Normenkette
StPO § 44 S. 2, § 45 Abs. 1, § 140 Abs. 1, § 143a Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 2 Nr. 3 Alt. 1, § 311 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 16.08.2021; Aktenzeichen (544) 273 Js 621/19 Ls Ns (19/21)) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den die Beiordnung seiner Wahlverteidigerin ablehnenden Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer xxx. vom 16. August 2021 wird nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten - erweitertes Schöffengericht - hat den durch Rechtsanwalt Z. verteidigten Angeklagten, der sich seit 10. Februar 2021 in Untersuchungshaft befindet, wegen verschiedener Rauschgiftdelikte, u.a. bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. In der auf seine Berufung anberaumten Hauptverhandlung ist am 16. August 2021 neben seinem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt Z. auch eine durch Verteidigervollmacht legitimierte Wahlverteidigerin erschienen. Auf die Erklärung des Angeklagten, nunmehr durch seine Wahlverteidigerin verteidigt zu werden, hat der Strafkammervorsitzende angeordnet, dass "Herr Rechtsanwalt Z. von seinem Pflichtmandat entbunden wird, da als Wahlverteidigerin Frau Rechtsanwältin Y. zur Verfügung steht". Den von der Wahlverteidigerin erst hiernach gestellten Beiordnungsantrag hat der Vorsitzende abgelehnt. Hiergegen richtet sich das als Beschwerde bezeichnete Rechtsmittel des Angeklagten. Es bleibt ohne Erfolg.
1. Allerdings behandelt der Senat das falsch bezeichnete Rechtsmittel als nach § 142 Abs. 7 Satz 1, 304, 311 StPO statthafte sofortige Beschwerde (§ 300 StPO).
2. Die sofortige Beschwerde ist erst am 10. September 2021 und damit nach Ablauf der durch § 311 Abs. 2 StPO zu beachtenden Wochenfrist beim Landgericht eingegangen. Obwohl der Angeklagte durch eine Rechtsanwältin verteidigt war, ordnet der Senat insoweit die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an. Aufgrund der negativen Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls ist davon auszugehen, dass der Angeklagte nicht über das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde belehrt worden ist, so dass zugunsten der von Amts wegen zu gewährenden Wiedereinsetzung der Rechtsgedanke des § 44 Satz 2 StPO streitet.
3. Die damit zulässig erhobene sofortige Beschwerde ist aber unbegründet. Der Vorsitzende der großen Strafkammer hat den Beiordnungsantrag der Rechtsanwältin verfahrensfehlerfrei abgelehnt.
Zwar liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung bereits nach § 140 Abs. 1 StPO vor. Die Bestellung der Wahlverteidigerin zur Pflichtverteidigerin kommt aber nicht in Betracht, weil diese zuvor einen Kollegen aus seiner Stellung als Pflichtverteidiger verdrängt hat und eine der in § 143a Abs. 2 StPO kodifizierten (Ausnahme-) Fallkonstellationen weder geltend gemacht wird noch ersichtlich ist (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 8. April 2021 - 1 Ws 195/21 - [juris]). Bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung am 13. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128) war anerkannt, dass ein Rechtsanwalt seine Bestellung als Pflichtverteidiger nicht dadurch erreichen kann, dass er zunächst durch die Übernahme eines Wahlmandats die Entpflichtung des bisherigen Pflichtverteidigers bewirkt und hiernach auf seine eigene Anordnung als Pflichtverteidiger anträgt (vgl. BGH StraFo 2008, 505; KG NStZ 2017, 64; OLG Köln, Beschlüsse vom 24. September 2012 - III-2 Ws 678/12 - und vom 7. Oktober 2005 - 2 Ws 469/05 -). Anderenfalls, so wurde argumentiert, könnten die Grundsätze über die Rücknahme einer Pflichtverteidigerbestellung und deren Grenzen allzu leicht unterlaufen werden (vgl. etwa OLG Köln, Beschluss vom 24. Se...