Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Das Kindergeld, das zugunsten des Vaters einer Tochter, die eine Zweitausbildung absolviert, festgesetzt ist, kann in analoger Anwendung des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG an die Tochter ausgezahlt werden, wenn der Vater tatsächlich keinen Unterhalt leistet und zivilrechtlich auch nicht dazu verpflichtet ist.
Normenkette
§ 74 Abs. 1 EStG , § 62 EStG , § 63 EStG , § 48 SGB I , § 1602 Abs. 1 BGB , § 1610 Abs. 2 BGB
Sachverhalt
Dem Kläger war für seine Tochter, die ein Zweitstudium begonnen hatte, Kindergeld bewilligt worden. Kurz darauf beantragte die Tochter, das Kindergeld zukünftig an sie zu überweisen, da ihr Vater keinen Unterhalt zahle. Der Beklagte bewilligte daraufhin gem. § 74 Abs. 1 EStG die Auszahlung des Kindergeldes von 200 DM monatlich unmittelbar an die Tochter.
Das FG wies die Klage des Klägers ab. Zwar bestehe gegenüber Kindern eine gesetzliche Unterhaltspflicht gern. §§ 1601 ff. BGB wegen einer Zweitausbildung nicht, wenn Eltern ihrem Kind bereits eine seinen Neigungen und seiner Begabung entsprechende Berufsausbildung hätten zukommen lassen. Es widerspreche aber dem Zweck des Kindergelds, dass Eltern Kindergeld bezögen und das Kindergeld nicht für das Kind, sondern für ihren eigenen Unterhalt verwendeten. Es sei deshalb davon auszugehen, dass zumindest in Höhe des Kindergeldanspruchs eine Unterhaltspflicht der Eltern bestehe und das Kindergeld an das Kind zu zahlen sei, wenn die Eltern dieser Verpflichtung nicht nachkämen.
Entscheidung
Der BFH folgte dem FG zwar im Ergebnis, nicht aber in der Begründung.
Es bestehe bei einer Zweitausbildung weder eine familienrechtliche Unterhaltspflicht noch ergebe sich eine solche aus anderen Gründen. Trotzdem könnten die Eltern Kindergeld beanspruchen; der Anspruch setze nicht voraus, dass eine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind bestehe.
Allerdings dürften die Eltern das Kindergeld nicht behalten, wenn sie dem Kind tatsächlich keinen Unterhalt gewährten. In diesem Fall könne das Kind verlangen, dass das Kindergeld ihm ausbezahlt werde. Die hinsichtlich dieses Anspruchs bestehende Gesetzeslücke sei durch eine analoge Anwendung von § 74 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 3 EStG zu schließen.
Hinweis
Das Kindergeld dient vorrangig dazu, das Existenzminimum der Kinder bei den Eltern steuerrechtlich freizustellen (§ 31 Satz 1 EStG); deshalb sind grundsätzlich nur diese kindergeldberechtigt. Ausnahmsweise kann nach § 74 EStG das Kindergeld aber an das Kind ausbezahlt werden, wenn die Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen, und zwar auch dann, wenn sie zur Unterhaltsleistung nicht fähig sind. Nicht geregelt ist der Fall, dass – wie bei einer Zweitausbildung des Kindes – eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern nicht besteht.
Damit wirft der Fall mit der Frage, ob das Kind bei einer Zweitausbildung verlangen kann, dass das Kindergeld ihm und nicht den Eltern ausbezahlt wird, eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung für das Kindergeldrecht auf: Können Eltern Kindergeld auch dann beanspruchen, wenn sie gegenüber dem Kind nicht zum Unterhalt verpflichtet sind?
Gegen einen solchen Anspruch könnte die Vorstellung des Gesetzgebers sprechen, dass nicht durch einen Familienlastenausgleich entlastet werden muss, wer nicht belastet ist (dazu BT-Drucks 13/1558 zu § 2 Abs. 2 Sätze 2-5 BKGG). In diese Richtung weisen auch einzelne gesetzliche Regelungen (auch § 74 Abs. 1 EStG, der dann folgerichtig keine Regelung für den Fall einer fehlenden Unterhaltsverpflichtung enthält) sowie ein Urteil des VI. Senats des BFH, mit dem dieser entschieden hat, dass die Eltern für ihr volljähriges verheiratetes Kind mangels Unterhaltsverpflichtung kein Kindergeld erhalten (Urteil vom 2.3.2000, VI R 13/99, BStBI II 2000, 522). Eine strikte Bindung des Kindergelds an die Unterhaltspflicht der Eltern hätte aber zur Folge, dass nicht nur die Eltern, sondern auch das – lediglich abzweigungsberechtigte – Kind kein Kindergeld erhielten; das Kind wäre dann auf andere Sozialleistung angewiesen, wie etwa die Ausbildungshilfe nach dem BAFöG oder auf die Sozialhilfe.
Soweit wollte er BFH ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung der Unterhaltspflicht als Voraussetzung des Kindergeldanspruchs nicht gehen. Es würde auch zu einer erheblichen Belastung der Praxis führen, wenn die Familienkassen in jedem Einzelfall – sozusagen "vor der Klammer" – das Bestehen einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht prüfen müssten. Soweit dem oben genannten Urteil des VI. Senats eine solche im System des Kindergeldrechts begründete Voraussetzung zu entnehmen sein sollte, handelt es sich deshalb lediglich um eine überschießende Tendenz in der Begründung.
Damit steht den Eltern ganz allgemein auch bei fehlender Unterhaltspflicht das Kindergeld zu, wenn das Kind nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften berücksichtigt wird; das Kind kann aber Auszahlung an sich verlangen, wenn es bedürftig ist (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) und ihm die Eltern unter Berufung auf ihre fehlende Unterhaltspflicht tatsächlich keinen Unterhalt gewähren.
Li...