Leitsatz
Die Berücksichtigung eines behinderten Kindes über das 27. Lebensjahr hinaus war nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG a.F. nur möglich, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten war.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG a.F.
Sachverhalt
Der Kläger ist Vater eines 1962 geborenen Sohnes. Bei diesem wurde 1986 eine HIV-Infektion diagnostiziert. Im Schwerbehindertenausweis von 1992 wurde der Grad der Behinderung mit 70 % angegeben. 1995 betrug der Grad der Behinderung 80 % mit den Merkzeichen G und RF.
Die Familienkasse lehnte es ab, dem Kläger Kindergeld für den Sohn zu gewähren. Das FG gab der Klage statt.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse hatte Erfolg; sie führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache.
Der BFH bestätigte zunächst die Verwaltungsauffassung, wonach auch für den Rechtszustand vor 2000 die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein müsse. Der Gesetzgeber habe mit dem JStG 1996 an die frühere Sozialrechtsprechung anknüpfen wollen, nach der ein Anspruch auf – sozialrechtliches – Kindergeld für behinderte Kinder nur bestand, wenn der Behinderungseintritt vor Vollendung des 27. Lebensjahres erfolgte. Diese Höchstaltergrenze habe der Gesetzgeber mit Wirkung ab 1.1.2000 bestätigt.
Die Sache wurde jedoch an das FG zurückverwiesen, da insbesondere Feststellungen darüber fehlten, ob der Sohn vor Vollendung des 27. Lebensjahres im Jahr 1989 bereits einen Grad der Behinderung von mindestens 50 % erreicht habe.
Hinweis
1. Die Besprechungsentscheidung betrifft hinsichtlich der Frage des Behinderungseintritts altes Recht. Denn durch das Familienförderungsgesetz vom 22.12.1999 wurde mit Wirkung ab 1.1.2000 bei § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG der Halbsatz eingefügt: "Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist".
Für die Zeit davor (ab 1996) war streitig, ob Eltern Kindergeld für ihre Kinder auch dann zustand, wenn die Behinderung erst nach dem 27. Lebensjahr eintrat.
Verschiedene FGs vertraten die Ansicht, die Vorschrift dürfe nicht dahingehend ausgelegt werden, eine im Gesetzeswortlaut nicht vorhandene (Alters)Grenze einzuführen. Andere FGs hatten – ebenso wie die Verwaltung – argumentiert, es sei anlässlich der Kindergeldreform 1996 nicht beabsichtigt gewesen, die personelle Abgrenzung des begünstigten Personenkreises zu ändern. Die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG a.F. müsse die historische Entwicklung des Kindergeldrechts sowie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum BKGG berücksichtigen, wonach die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein müsse.
Mit gewissem Recht wurde von der Verwaltung auch eingewandt, dass eine Abweichung von der sozialrechtlichen Rechtslage dazu führe, dass hochbetagte Eltern für Kinder im vorgerückten Alter plötzlich wieder einen Anspruch auf Kindergeld haben kann. Für solche Fälle seien jedoch andere ergänzende Sozial(hilfe)leistungen angebracht.
2. Erstmals wurde im Streitfall die Verwaltungsauffassung bestätigt, dass die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt grundsätzlich dann angenommen werden könne, wenn der Grad der Behinderung mindestens 50 % beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts ausgeschlossen erscheint (Abschnitt 63.3.6.3. Abs. 5 DAFamEStG).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.7.2001, VI R 56/98