Leitsatz
1. Eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung wegen Berufsausbildung scheidet aus, wenn Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses wegen einer nicht vorübergehenden Erkrankung unterbleiben. In Betracht kommt dann eine Berücksichtigung wegen Behinderung (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG).
2. Eine Krankheit ist nicht vorübergehend, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine länger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin bezog fortlaufend Kindergeld für ihren 1999 geborenen Sohn S, der am 1.8.2015 eine Ausbildung zum Zweiradmechatroniker begonnen hatte, die zum 31.1.2019 enden sollte. Im September 2018 erlitt S während seiner Arbeit einen schweren Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma und befand sich deshalb mehrere Wochen in stationärer Behandlung. Anschließend durchlief er verschiedene Reha-Maßnahmen, von denen die letzte 17 Monate nach dem Unfall begann.
Das FG sprach Kindergeld für die streitigen acht Monate nach dem Unfall zu (Oktober 2018 bis Mai 2019), weil das Ausbildungsverhältnis infolge einer Verlängerung fortbestand und der Wille des S, die Ausbildung baldmöglichst fortzusetzen, belegt sei (FG Münster, Urteil vom 1.7.2020, 11 K 1832/19 Kg, Haufe-Index 14058303).
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils.
Das FG hat im zweiten Rechtsgang zu klären, ob die sechs Monate übersteigende Erkrankungsdauer bereits in den ersten Monaten nach dem Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wurde. Falls zunächst eine schnellere Genesung als möglich erschien, könnte der Kindergeldanspruch für diesen Zeitraum noch wegen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses begründet sein.
Für die Monate, in denen eine Berücksichtigung wegen Ausbildung aufgrund des dann mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten langwierigen Heilungsprozesses nicht in Betracht kommt, ist zu prüfen, ob S behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
Hinweis
1. Die Berücksichtigung eines Kindes wegen Ausbildung setzt Ausbildungsmaßnahmen voraus. Diese werden durch Einschreibung an einer Schule oder Hochschule oder einen Ausbildungsvertrag indiziert. Das formale Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses genügt aber nicht, wenn es – wie hier wegen Unfallfolgen – an ernsthaften und nachhaltigen Ausbildungsmaßnahmen fehlt.
2. Wenn das Kind einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist, kann eine Unterbrechung der Ausbildungsmaßnahmen unschädlich sein, z.B. wegen Erkrankung, Mutterschutzfristen oder Untersuchungshaft im Ausland.
3. Insoweit besteht aber eine zeitliche Grenze: Die Unterbrechung der Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses steht der Berücksichtigung nur dann nicht entgegen, wenn die Erkrankung vorübergehend ist.
Entsprechendes gilt für die krankheitsbedingte Unterbrechung der Ausbildungsplatzsuche nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG (BFH, Urteil vom 31.8.2021, III R 41/19, BFH/NV 2022, 385, BFH/PR 2022, 105).
Die zeitliche Grenze dient der Abgrenzung der Berücksichtigung wegen Ausbildung oder Ausbildungsplatzsuche von der Berücksichtigung wegen Behinderung. Behinderte Kinder werden nur dann berücksichtigt, wenn sie aufgrund der Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, was durch Sozialleistungen nicht selten ausgeschlossen ist.
4. Eine Erkrankung ist nur dann "vorübergehend", wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht länger als sechs Monate andauern wird. Die Sechs-Monats-Grenze leitet der BFH aus dem Sozialrecht ab (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Maßgeblich ist nicht die (rückblickend) seit Beginn der Erkrankung oder seit ihrer erstmaligen ärztlichen Diagnose tatsächlich verstrichene Zeit, sondern die zu erwartende Dauer der Funktionsbeeinträchtigung. Die Dauer ist ggf. zu prognostizieren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 15.12.2021– III R 43/20