Kindergeld für ein langfristig erkranktes Kind
Hintergrund: Unfall während der Ausbildung
Streitig war, ob die Mutter für Oktober 2018 bis Mai 2019 Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn (S) hat.
S hatte in August 2015 eine Ausbildung begonnen, die nach dem Ausbildungsvertrag zum Januar 2019 enden sollte.
Im September 2018 erlitt S einen schweren Unfall. Er befand sich von September bis November 2018 in stationärer Behandlung. Danach durchlief er verschiedene Reha-Maßnahmen, deren letzte 17 Monate nach dem Unfall begann. Das Ausbildungsverhältnis bestand weiter. Nach einer ärztlichen Bescheinigung vom Januar 2019 war das Ende der Erkrankung nicht absehbar.
Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung für Oktober bis Dezember 2018 auf und lehnte die Gewährung ab Januar 2019 ab.
Das FG sprach Kindergeld für die ersten 8 Monate nach dem Unfall zu (Oktober 2018 bis Mai 2019). S sei weiterhin nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG zu berücksichtigen. Er habe sich immer noch im (aufgrund des Unfalls verlängerten) Ausbildungsverhältnis befunden und sein Wille, die Ausbildung baldmöglichst fortzusetzen, sei belegt.
Entscheidung: Kein Kindergeld bei länger als sechs Monate dauernder Erkrankung
Der BFH widerspricht dem FG. Er verwies die Sache zur weiteren Aufklärung an das FG zurück. Eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung wegen Ausbildung scheidet aus, wenn die Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate andauern wird. Es kommt dann aber eine Berücksichtigung wegen Behinderung in Betracht.
Berufsausbildung
In Berufsausbildung (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet (BFH v. 27.11.2019, III R 65/18, BFH/NV 2020 S. 765). Allein das formale Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses genügt nicht, solange es an ernsthaften und nachhaltigen Ausbildungsmaßnahmen fehlt (BFH v. 18.1.2018, III R 16/17, BStBl II 2018 S. 402).
Unterbrechung der Ausbildung wegen vorübergehender Erkrankung
Hiervon ist allerdings eine Ausnahme anerkannt, wenn die Ausbildung infolge einer Erkrankung unterbrochen wird (BFH v. 13.6.2013, III R 58/12, BStBl II 2014 S. 834). Dafür ist jedoch erforderlich, dass das Kind einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist (BFH v. 15.7.2003, VIII R 47/02, BStBl II 2003 S. 848). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt, da der Ausbildungsvertrag fortbestand und S weiterhin ausbildungswillig war.
Vorübergehende Unterbrechung der Ausbildung
Die Unterbrechung der Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses steht der Berücksichtigung als in Ausbildung befindliches Kind (nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) aber nur dann nicht entgegen, wenn die Erkrankung nur vorübergehend ist.
Das Erfordernis einer nur vorübergehenden Krankheit ergibt sich aus der Abgrenzung der von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG erfassten Fälle (Berufsausbildung) von den unter § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG fallenden Fällen (Behinderung). Die Berücksichtigung als behindertes Kind erfordert nach der Legaldefinition des SGB IX eine mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX; BFH v. 12.11.2020, III R 49/18, BFH/NV 2021 S. 601). Mit diesem Erfordernis werden vorübergehende Gesundheitsstörungen aus dem Behinderungsbegriff ausgeschlossen und unter Behinderung nur Beeinträchtigungen eines bestimmten Schweregrades erfasst (Senatsurteil vom 27.11.2019, III R 44/17, BStBl II 2020 S. 558). Andernfalls würde die gesetzliche Wertung, längerfristig erkrankte Kinder nur bei einem konkreten Unterhaltsbedarf zu berücksichtigen (§ 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG), umgangen.
Prognose der Funktionsbeeinträchtigung
Unterbleiben Ausbildungsmaßnahmen wegen einer Erkrankung, darf die gesundheitliche Beeinträchtigung daher nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern, wenn das Kind weiter unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung berücksichtigt werden soll. Dabei ist (um den Gleichlauf mit der Feststellung einer Behinderung zu gewährleisten) nicht die (rückblickend) seit Beginn der Erkrankung tatsächlich verstrichene Zeit maßgebend, sondern die ihrer Art nach zu erwartender Dauer der Funktionsbeeinträchtigung. Zur Beurteilung dieser Frage ist eine Prognose zur (weiteren) Entwicklung der Funktionsbeeinträchtigung zu stellen (BFH v. 27.11.2019, III R 44/17, BStBl II 2020 S. 558).
Zurückverweisung an das FG
Das FG hat nicht festgestellt, ob eine sechs Monate übersteigende Erkrankungsdauer bereits in den ersten Monaten nach der Erkrankung erwartet wurde. Falls zunächst eine schnellere Genesung als möglich erschien, könnte S angesichts des fortbestehenden Ausbildungsverhältnisses bis dahin weiter nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG berücksichtigt werden.
Für den Zeitraum, in dem wegen des erwarteten längeren Heilungsprozesses eine Berücksichtigung wegen Ausbildung nicht in Betracht kommt, ist zu prüfen, in welchen Monaten S behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Hinweis: Krankheitsbedingte Unterbrechung der Bemühungen um einen Ausbildungsplatz
Es handelt sich um eine Parallelentscheidung zum Fall eines Kindes, das sein Ausbildungsverhältnis wegen einer Erkrankung nicht nur unterbrochen, sondern durch Abmeldung von der Schule beendet hatte (BFH v. 31.8.2021, III R 41/19, BFH/NV 2022 S. 385). Damit kam das Kind – bei entsprechenden Bemühungen – als ausbildungsplatzsuchendes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG in Betracht. Das setzt – wie im Streitfall – allerdings voraus, dass es sich um eine vorübergehende (ihrer Art nach voraussichtlich nicht länger als sechs Monate dauernde) Krankheit handelt.
BFH Urteil vom 15.12.2021 - III R 43/20 (veröffentlicht am 21.04.2022)
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