Leitsatz
§ 62 Abs. 1a EStG verstößt insoweit gegen Unionsrecht, als er Unionsbürger diskriminiert, die während der ersten 3 Monate ihres Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat nicht erwerbstätig sind, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen nach einer Wiedereinreise Familienleistungen uneingeschränkt auch ohne Erwerbstätigkeit gewährt. Eine bulgarische Staatsangehörige kann in Deutschland für 3 Monate nach ihrer Einreise für ihr Kind Kindergeld beanspruchen, da sie sich in diesem Zeitraum berechtigt in Deutschland aufhält.
Sachverhalt
Die Klägerin ist die Mutter einer im Jahr 2016 geborenen Tochter, welche beide bulgarische Staatsangehörige und seit dem 20.1.2022 mit unterschiedlichen Anschriften in Deutschland gemeldet sind. Den Kindergeldantrag lehnte die Familienkasse für den Monat März 2022 ab. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat die Klägerin Klage eingelegt. Nach dem die Familienkasse im Klageverfahren dem Einspruch teilweise abgeholfen hat, blieb nur noch der Kindergeldanspruch für den Monat April 2022 streitig. Die Familienkasse beruft sich auf die Weisung des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt) vom 28.9.2022, wonach ein Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (nur) in den ersten 3 Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung, mit der Folge, dass eine tagbezogene Betrachtung des Zeitraums nicht möglich sei.
Entscheidung
Die zulässige Klage ist begründet. Das FG ist der Auffassung, dass die Familienkasse zu Unrecht davon ausgehe, dass das Urteil des EuGH, Urteil v. 1.8.2022, C-411/20 dazu führe, dass nur für die ersten 3 Kalendermonate (hier Januar bis März 2022) ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Die am 20.1.2022 eingereiste Klägerin und ihre Tochter seien in den ersten 3 Monaten nach ihrer Einreise zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt gewesen, ohne dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU oder § 2 Abs. 3 FreizügG/EU angekommen wäre. Dabei sei der Zeitraum "von bis zu drei Monaten" taggenau zu ermitteln, sodass er im vorliegenden Fall bis zum Ablauf des 20.4.2022 andauerte. Sollte der Zeitraum von bis zu 3 Monaten den Kalendermonat der Einreise und die beiden folgenden Kalendermonate umfassen, würde es einen wesentlichen Unterschied machen, ob die Einreise zu Beginn oder zum Ende eines Kalendermonats erfolge.
Hinweis
Die tagegenaue Ermittlung des Dreimonats-Zeitraum kann in der Praxis dazu führen, dass das Kindergeld für insgesamt 4 Kalendermonate ab dem Zeitpunkt der Einreise zu gewähren ist. Die vom FG zugelassene Revision wurde zwar eingelegt, aber anschließend wieder zurückgenommen.
Link zur Entscheidung
FG Münster, Urteil v. 22.05.2024, 8 K 2918/22 Kg