Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Weitere Anwendung der Strafmaßtabellen?
Rz. 1075
In der Vergangenheit waren die in der Praxis mitunter schematisch angewandten Strafmaßtabellen, anhand derer sich aus einem bestimmten Verkürzungsbetrag eine bestimmte Tagessatzanzahl berechnen lässt, eines der größten Ärgernisse. Dies führte dazu, dass die besonderen Umstände eines jeden Einzelfalls bei der Strafzumessung keine (hinreichende) Berücksichtigung fanden (zu den Bedenken hierzu s. Rz. 1078). Nach den Entscheidungen des BGH zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehungen war zu hoffen, dass die Strafmaßtabellen jedenfalls in weiten Teilen obsolet werden. Wenngleich zu befürchten war, dass gerade in dem Bereich der Hinterziehungssummen bis 50.000 EUR, zu denen der BGH keine weiteren Ausführungen gemacht hat, die Tabellen weiter angewandt werden. Über zehn Jahre nach der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 2008 ist zu konstatieren, dass Strafmaßtabellen bzw. bestimmte Richtwerte in der Praxis nach wie vor Anwendung finden. So wird von den StraBu-Stellen bei der Bestimmung der zu verhängenden Strafe nicht selten auf die "ortsüblichen Tarife" verwiesen.
b) Inhalt und Kritik der Strafmaßtabellen
Rz. 1076
In der Praxis wird die ganz überwiegende Zahl der Hinterziehungsfälle, soweit es zur Bestrafung kommt, durch Geldstrafen geahndet. Diese werden nach dem Tagessatzsystem berechnet, das Strafen von 5 bis 360 Tagessätzen von mindestens 1 EUR und höchstens 30.000 EUR zulässt (§ 40 Abs. 2 Satz 3 StGB). Bei Tatmehrheit ist die Verhängung von bis zu 720 Tagessätzen möglich (§ 54 Abs. 2 Satz 2 StGB). Da sehr häufig die StraBu-Stellen der Finanzämter eine durch Strafbefehl festzusetzende Geldstrafe beantragen (§ 400 AO), dem die Gerichte durchweg entsprechen, spielen in der Praxis die Strafmaßtabellen der Finanzverwaltung, die von den OFD für den jeweiligen Bereich erlassen werden und die doch recht unterschiedliche, an der hinterzogenen Steuer orientierte Mittelwerte/Richtwerte zur Ermittlung der Anzahl der Tagessätze bei Geldstrafe bezogen auf den Durchschnittsfall enthalten, eine maßgebliche Rolle. Dabei bleiben oft strafverschärfende oder -mildernde Umstände des Einzelfalls unberücksichtigt.
Rz. 1077
Die Tabellen sind regelmäßig nur für den internen Gebrauch bestimmt und der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Rz. 1078
Die Aufstellung solcher Strafrahmenkataloge erscheint im Interesse einer Gleichbehandlung (gleichmäßige Bestrafung) und der Rechtssicherheit auf den ersten Blick begrüßenswert. Dies gilt jedoch nur, soweit die zur Schadenshöhe in Bezug gesetzten Richtwerte ausschließlich als erste unverbindliche Anhaltspunkte für die Strafbemessung oder als sog. "Einstiegsstelle" für eine Steuerhinterziehung mittlerer Schwere (Durchschnittsfall) angesehen und alle sonstigen tat- und täterbezogenen Zumessungserwägungen in hinreichender Weise berücksichtigt werden, um eine dem Schuldprinzip angemessene Strafe auszuloten. Die Anzahl der sich anhand der Strafmaßtabelle errechneten Tagessätze ist demnach unter Berücksichtigung der besonderen Strafzumessungsgründe zu erhöhen oder zu mindern.
Bedenken gegen eine undifferenzierte Verwendung der Strafmaßtabellen bestehen aber insoweit, als in der Praxis infolge der Vielzahl der Fälle und des Umstands, dass der Strafbefehl im schriftlichen Verfahren ergeht, die anderen Strafzumessungsgründe keine gebührende Berücksichtigung finden, sondern das Strafmaß in erster Linie an der Höhe des Verkürzungsbetrags orientiert ist. Auch die Rspr. hat sich generell gegen eine am Regelfall ausgerichtete Normalstrafe, von der ausgehend der Richter mithilfe von Abstrichen und Zuschlägen die zu verhängende Strafe festzulegen habe, ausgesprochen. Allerdings hat der BGH im Zusammenhang einer Zumessung von Einzelstrafen einer Tatserie auch ausdrücklich klargestellt, dass grundsätzlich bei Steuerstraftaten, denen gleichgelagerte Begehungsformen zugrunde liegen, eine Kategorisierung nach der Schadenshöhe erfolgen kann. Eine pauschale Anwendung des Strafmaßkatalogs durch die Verwaltung wird nicht dem unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt der einzelnen Tatmodalitäten der Steuerhinterziehung gerecht, da das geschützte Rechtsgut, nämlich das staatliche Steueraufkommen, in mehr oder minder schwerwiegender Weise beeinträchtigt sein kann. Das gilt vor allem für die im Unrechtsgehalt qualitativ unterschiedliche zeitliche und dauernde Steuerverkürzung. Bei der minder schweren zeitlichen Hinterziehung (i.d.R. von Fälligkeitssteuern) darf die Strafe nur ausgehend vom Verspätungsschaden, d.h. dem Zinsverlust, und nicht wie in der Praxis häufig zu beobachten, prozentual von dem Gesamtbetrag der vorenthaltenen (Umsatz- oder Lohn-)Steuer berechnet werden. Wesentlich schwerer wiegt demgegenüber die auf Dauer angelegte und endgültige Verkürzung von Veranlagungssteuern. Auch den unterschiedlichen kriminellen Gehalt von positivem Tun und Unterlassen gilt es zu berücksichtigen.