Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Allgemeines
Rz. 1237
Durch den Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten (§ 42 Abs. 1 AO) kann das Steuergesetz nicht umgangen werden. Das gilt damit auch dann, wenn eine unangemessene Gestaltung zur Verwirklichung des Tatbestands einer begünstigenden Gesetzesvorschrift gewählt wird. Nach § 42 Abs. 2 AO liegt ein Missbrauch vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Stpfl. oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt nicht, wenn der Stpfl. für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind. Da § 42 AO ungerechtfertigten Steuerminderungen entgegenwirken soll, greift die Norm nur, wenn bei Wahl einer angemessenen Gestaltung eine höhere Steuer zu zahlen wäre als auf dem tatsächlich eingeschlagenen Weg. Auch bei der Einschaltung von Basisgesellschaften (s. Rz. 1242) ist daher die Feststellung eines "Umgehungserfolges" unverzichtbar.
§ 42 AO ist ebenfalls bei Vorliegen eines Doppelbesteuerungsabkommens anwendbar, es sei denn, dieses trifft selbst abschließende Regelungen zur Missbrauchsbekämpfung. § 50d Abs. 3 EStG verdrängte im Übrigen als speziellere Regelung § 42 AO a.F.
Kennzeichnend für Umgehungsgeschäfte ist es, dass die Absicht der Steuerumgehung nur zu verwirklichen ist, wenn die Rechtsfolgen des Umgehungsgeschäfts wirklich gewollt sind. Zur Abgrenzung zum Scheingeschäft s. Rz. 1230, 1232. Geschäfte i.S.d. § 42 Abs. 1 AO sind gesetzlich nicht verboten. Sie verstoßen i.d.R. auch nicht gegen die guten Sitten, jedoch wird ihr Erfolg für steuerliche Zwecke nicht gebilligt. Ist die Steuerhinterziehung aber der Hauptzweck des Geschäfts, so sind auch die zugrunde liegenden Rechtsgeschäfte nach §§ 134, 138 Abs. 1 i.V.m. § 139 BGB nichtig.
Die FG sind bei der Anwendung des § 42 AO gehalten, mithilfe dieser Bestimmung vom Gesetz nicht bezweckten und gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigendenden, zu Steuerminderbelastungen führenden Gestaltungspraktiken nach Möglichkeit entgegenzuwirken, die sonst zur Verfassungswidrigkeit einer Norm führen. Methodisch wird § 42 AO steuerrechtlich teilweise als eine gesetzliche Regelung angesehen, die eine steuerverschärfende Analogie zum Nachteil des Stpfl. erlaubt. Eine solche Begründung des Hinterziehungserfolgs i.S.d. § 370 Abs. 1 AO wirft im Strafrecht besondere Probleme auf. Zur Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheits- und Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG s. Rz. 26 ff.
Rz. 1238
§ 42 Abs. 2 Satz 1 AO i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2008 definiert den Missbrauch i.S.d. Abs. 1 dahin gehend, dass eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Stpfl. oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass mit dem "gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil", den der Stpfl. oder ein Dritter erlangt, auch die zu niedrig festgesetzte Steuer, also die Steuerverkürzung i.S.d. § 370 Abs. 1 AO gemeint ist.
Rz. 1238a
Der Sache nach dürfte sich damit inhaltlich an dem früheren Verständnis eines Gestaltungsmissbrauchs nichts oder allenfalls wenig geändert haben. Nach wie vor entscheidend für die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs ist jedenfalls die Feststellung, dass der erlangte Steuervorteil gesetzlich nicht vorgesehen ist. Diese Feststellung beruht aber zwingend auf der Auslegung des (potentiell umgangenen) Einzelsteuergesetzes, nicht auf der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 42 Abs. 2 AO. Sieht das Einzelsteuergesetz den erlangten Vorteil nicht vor, ist die rechtliche Gestaltung, die ihn im Widerspruch(!) zum Gesetz doch ermöglicht, immer unangemessen. Dann dürfte es gleichgültig sein, ob die Gestaltung der Umgehungsgeschäfte komplizierte Regelungen erfordert oder nicht. Kann der Stpfl. beachtliche Gründe für die gewählte Gestaltung i.S.d. § 42 Abs. 2 Satz 2 AO geltend machen, dürfte der Steuervorteil gesetzlich vorgesehen sein – gerade wegen der Beachtlichkeit der Gründe soll der steuerliche Vorteil nicht gesperrt sein.
Betont wird regelmäßig auch, dass es dem Stpfl. nicht verwehrt ist, eine ihm günstige steuerliche Gestaltung zu wählen; das Bestreben, Steuern zu sparen, macht eine Gestaltung noch nicht unangemessen. So verhält sich diejenige, die noch Ende Dezember heiratet, um für das gesamte Jahr in den Genuss des Ehegattensplittings zu kommen, sicherlich nicht rechtsmissbräuchlich – selbst wenn das der einzige Grund für die Hochzeit zum Ende des Jahres sein mag und die Feier erst im kommenden Mai stattfindet.
Rz. 1238b
Liegt ein objektiv auf Umgehung gerichteter Sachverhalt vor, so indiziert dieser Sachverhalt die Missbrauchsabsicht. Ob eine solche Absicht überhaupt erforderlich ist, ist umstritten. Im Wortlaut des § 42 AO ist sie nicht angelegt. Unk...