Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1245
Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken weist nach Auffassung des EuGH den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Eine betrügerische oder rechtsmissbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht ist nicht erlaubt. Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts könne nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt würden, also diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen. Die Versagung eines Vorteils wegen missbräuchlicher oder betrügerischer Tätigkeiten sei die einfache Folge der Feststellung, dass dann die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des ersuchten Vorteils in Wirklichkeit nicht erfüllt seien (s. Rz. 1238); einer ausdrücklichen gesetzlichen Missbrauchsregelung bedarf es daher im Unionsrecht nicht.
Der EuGH geht davon aus, dass es grds. unzulässig ist, einen Vorteil, der aus der geringeren steuerlichen Belastung einer Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Muttergesellschaft resultiert, dadurch auszugleichen, dass der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft diese steuerlich weniger günstig behandelt und die Gewinne der ausländischen Tochtergesellschaft in die Besteuerungsgrundlage der Mutter einbezieht, während das für inländische Töchter oder Töchter in Nicht-Niedrigsteuerländern nicht der Fall ist. Dann liegt eine unzulässige Diskriminierung vor.
Der Herkunftsstaat darf die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat der EU nicht behindern. Es stellt keinen Missbrauch dar, wenn eine Gesellschaft ihren satzungsmäßigen oder tatsächlichen Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen. Deshalb ist es unzulässig, wenn die Muttergesellschaft in Ansehung der Gewinne besteuert wird, die eine von ihr beherrschte Gesellschaft im EU-Ausland erzielt hat. Die (ungleiche, diskriminierende) Einbeziehung der ausländischen Gewinne bedarf vielmehr besonderer Rechtfertigung. Diese ist dann gegeben, wenn sich die Einbeziehung auf "künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen". In dem der Entscheidung Cadbury Schweppes zugrunde liegenden Fall hatte eine in Großbritannien ansässige Gesellschaft in Irland eine (von ihr beherrschte) Gesellschaft gegründet, die in Irland einem deutlich niedrigeren Besteuerungsniveau unterlag als im Vereinigten Königreich.
Die Gründung einer Gesellschaft im Ausland mit dem Ziel, dort in den Genuss vorteilhafter (Steuer-)Rechtsvorschriften zu kommen, reicht also für sich allein nicht aus, um einen Missbrauch anzunehmen, so dass die Verlagerung von Gewinnen in das niedrig besteuernde Ausland prinzipiell zulässig ist. Damit wird das Recht der Mitgliedstaaten anerkannt, ihre Steuerzuständigkeit in Bezug auf die in ihrem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten auszuüben und die dort erzielten Gewinne zu besteuern. Der Umstand, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat ihre Tätigkeiten hauptsächlich in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, kann zudem nicht die allgemeine Vermutug der Steuerhinterziehung begründen.
Nach Auffassung des EuGH muss die Gründung der Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat aber mit einer tatsächlichen Ansiedlung zusammenhängen, deren Zweck darin besteht, wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachzugehen. Es darf sich damit nicht nur um eine fiktive Ansiedlung handeln, während tatsächlich keine wirtschaftliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats entfaltet wird (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 2 und 3 AStG). Geht es um tatsächliche Tätigkeiten wie Produktion oder Vertrieb mit Geschäftsräumen und Personal etc., dürfte diese Frage grds. nicht problematisch zu beantworten sein. Besondere Schwierigkeiten entstehen aber bei passiv tätigen Kapitalgesellschaften – insbesondere beim Verwalten von Vermögenswerten –, die keine Produktionsstätten o.Ä. benötigen. Siehe zur Anwendung des § 8 Abs. 2 AStG das BMF-Schreiben vom 17.3.2021.
Rz. 1246
Zur Annahme einer missbräuchlichen Praktik und zur Versagung des Vorsteuerabzugs reicht es nicht aus, wenn durch die Einschaltung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft vermieden werden soll, dass Mehrwertsteuer erhoben wird. Eine deutsche Tochtergesellschaft einer in Großbritannien ansässigen Bank hatte dort Fahrzeuge von einem ebenfalls dort ansässigen Unternehmen mit dem Ziel erworben, diese an ein mit dem Verkäufer der Fahrzeuge verbundenes Unternehmen zu verleasen. Britische Mehrwertsteuer auf den Kauf wurde entrichtet. Nach britischem Recht galt das L...