Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
aa) Einführung
Rz. 1757
Nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG wird auf die Einkommensteuer (bzw. i.V.m. § 31 Abs. 1 KStG auf die Körperschaftsteuer) die "durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer" angerechnet, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte oder auf die nach § 3 Nr. 40 EStG oder nach § 8b Abs. 1 und 6 Satz 2 KStG außer Ansatz bleibenden Bezüge entfällt, wenn der Steuerpflichtige die Steuerbescheinigung gem. § 45a Abs. 2 oder Abs. 3 EStG vorlegt. Die Anrechnung bzw. Erstattung hat also drei Voraussetzungen: (1) Der Erwerber (Leerkäufer) muss Einkünfte erzielt haben, die bei der Veranlagung erfasst werden oder nach § 3 Nr. 40 EStG oder nach § 8b Abs. 1 KStG außer Ansatz bleiben, (2) auf diese Einkünfte muss Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer im Wege des Steuerabzugs erhoben worden sein und (3) der Erwerber muss dem FA eine Steuerbescheinigung vorgelegt haben.
bb) Bei der Veranlagung erfasste bzw. außer Ansatz bleibende Einkünfte
Rz. 1758
Zentral ist die Frage, wem die Anrechnung der von dem Emittenten der Aktie erhobenen Kapitalertragsteuer zusteht. Maßgeblich ist dafür, wer die Einkünfte i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG erzielt hat. Nach § 20 Abs. 5 Satz 1 und 2 EStG (= § 20 Abs. 2a EStG a.F.) ist dies der Anteilseigner als derjenige, dem die Anteile im Zeitpunkt des Gewinnverwendungsbeschlusses, also dem Hauptversammlungstag, gem. § 39 AO zuzurechnen sind. Das zivilrechtliche Eigentum geht bei börsennotierten Aktien, die in Form von Globalurkunden bei Clearstream Banking verwahrt werden, erst mit der entsprechenden Umbuchung durch Clearstream über, bei Cum-Ex-Geschäften also erst nach dem Dividendenstichtag. Fraglich ist also allein, ob der Erwerber in einer Leerverkaufskonstellation bereits vor dem Dividendenstichtag, mit Abschluss des schuldrechtlichen Geschäfts mit dem Leerverkäufer wirtschaftliches Eigentum (§ 39 Abs. 2 AO) erwerben kann. Der Leerkäufer müsste die tatsächliche Herrschaft über das Wirtschaftsgut in der Weise ausüben, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut ausschließen kann.
Rz. 1759
In seiner Entscheidung vom 15.12.1999 hat der BFH zum sog. "Dividendenstripping" entschieden, dass der Erwerber beim Aktienerwerb wirtschaftliches Eigentum im Allgemeinen bereits mit Abschluss des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfts erlange, da ihm "nach den einschlägigen Börsenusancen und den üblichen Abläufen die mit den Anteilen verbundenen Gewinnansprüche regelmäßig nicht mehr entzogen werden" können und er bereits in die Lage versetzt worden sei, die Aktien für längere Zeit in seinem Eigenbestand zu belassen, sie an Dritte weiterzuveräußern oder sie in sonstiger Weise beliebig zu nutzen. Der Umstand, dass die entsprechende Umbuchung ggf. erst zwei Tage nach dem Vertragsabschluss vorgenommen worden ist, beeinflusst den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums nicht. Das Urteil hat der BFH in späteren Entscheidungen bestätigt. In seiner Entscheidung vom 16.4.2014 hat der BFH klargestellt, dass hinsichtlich dieser Grundsätze kein Unterschied zwischen Börsengeschäften und außerbörslichen Geschäften (sog. OTC-Geschäfte) bestehe.
Rz. 1760
Die BFH-Rspr. zum wirtschaftlichen Eigentum beim Dividendenstripping konnte indes nicht ohne weiteres auf Leerverkaufsgestaltungen zu übertragen werden. Hier hat der Aktieninhaber sich zum Dividendenstichtag in noch keine Rechtsposition begeben, die eine Zurechnung des wirtschaftlichen Eigentums zum Erwerber – unter Aberkennung des wirtschaftlichen Eigentums beim Aktieninhaber – rechtfertigen könnte. Der Aktieninhaber ist nach wie vor zivilrechtlicher und wirtschaftlicher Eigentümer. In der Literatur wurde vielfach angenommen, der Erwerber könne dennoch bereits mit Abschluss des schuldrechtlichen Geschäfts mit dem Leerverkäufer wirtschaftliches Eigentum erwerben, was eine doppelte Zurechnung zur Folge habe. Die These von einem doppelten wirtschaftlichen Eigentum war in der Literatur sehr umstritten. Auch der Gesetzgeber ging bei Einführung des JStG 2007 aber offensichtlich davon aus, dass der Leerverkäufer wirtschaftliches Eigentum und damit einen Anrechnungsanspruch erwerben könne.
Rz. 1761
Der BFH hat sich in seiner Entscheidung vom 16.4.2014 erstmals mit Aktienerwerben um den Dividendenstichtag mit möglicherweise nicht erfolgter Kapitalertragsteuerabführung beschäftigt. Darin hat er entschieden, dass wirtschaftliches Eigentum bei Cum-Ex-Geschäften mit Aktien ausscheide, wenn der Erwerb der Aktien mit dem "durch ein Kreditinstitut initiiertes und modellhaft aufgelegtes Gesamtvertragskonzept verbunden ist, nach welchem der Initiator den Anteilserwerb fremdfinanziert, der Erwerber die Aktien unmittelbar nach ihrem Erwerb dem Initiator im Wege einer sog. Wertpapierleihe (bis zum Rückverkauf) weiterreicht und der Erwerber das Marktpreisrisiko der Aktien im Rahmen eines sog. T...