Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1413
Durch die Entscheidung des EuGH in der Sache Italmoda ist nunmehr klargestellt, dass alle Fälle von missbräuchlicher Geltendmachung von Rechten aus der MwStSystRL bzw. der 6. EG-Richtlinie – insb. Steuerbefreiungen für innergemeinschaftliche Lieferungen und das Recht auf Vorsteuerabzug – gleich zu behandeln sind. Einheitlicher Maßstab für die Versagung ist danach nunmehr die Frage, ob der Stpfl., der sich auf eines dieser Rechts beruft, jedenfalls "hätte wissen müssen", dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einer Steuerhinterziehung beteiligt.
Unerheblich sei dabei, ob die Steuer in einem anderen Mitgliedsstaat hinterzogen wird oder durch welches Glied der Lieferkette sie begangen wird. Eine Berufung auf Vertrauensschutz soll zudem ebenfalls ausscheiden.
Dies soll selbst dann gelten, wenn das nationale Recht keine expliziten Regelungen – wie der mittlerweile für Umsätze, die nach dem 1.1.2020 getätigt wurden, eingeführte § 25f UStG – oder im Wege der richtlinienkonformen Auslegung sich ergebenden Regelungen zur Versagung der benannten Vorteile vorsieht. Zur Begründung verweist der EuGH darauf, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der 6. Richtlinie anerkannt und gefördert wird. Zudem sei dem Unionsrecht der Grundsatz eigen, dass eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Rechte nicht möglich sei, da es in diesen Fällen schon an den objektiven Voraussetzungen für eine Rechtsgewährung fehle.
Rz. 1413.1
In der Literatur begegnet das Urteil großer Kritik. Im Fokus steht dabei vor allem die nochmals weitergehende Abkehr vom Neutralitätsprinzip zu Zwecken der Bekämpfung der Umsatzsteuerhinterziehung. Das Neutralitätsprinzip sei tragender Grundsatz des Mehrwertsteuerrechts. Durch die Anwendung der EuGH-Rspr. würden aber höhere Steueraufkommen generiert als bei einer korrekten Behandlung der Umsätze entstanden wären. Die Vorteilsversagung diene damit nicht mehr allein der Sicherung des Steueraufkommens, sondern erhalte den Charakter einer Strafsteuer. Die Begründung des EuGH, es handele sich nicht um eine strafrechtliche Sanktion, da die Vorteilsversagung "systeminhärent" sei, vermag insofern nicht zu überzeugen.
Rz. 1413.2
Zudem wird auf die Möglichkeit unverhältnismäßiger Doppelbelastungen für einzelne Stpfl. hingewiesen, die selbst nicht Täter der Umsatzsteuerhinterziehung sind. Die Doppelbelastungen entstehen zum einen dadurch, dass nach überwiegender Interpretation die EuGH-Rspr. eine kumulative Vorteilsversagung ermöglicht. Dem Stpfl., der eine innergemeinschaftliche Lieferung ausführt und hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Umsatz an einem auf die Hinterziehung von Umsatzsteuern gerichteten Systems beteiligt, würde dann sowohl der Vorsteuerabzug bzgl. der von ihm bezogenen Ware als auch die Steuerbefreiung für seine innergemeinschaftliche Lieferung versagt. Mittlerweile hat der deutsche Gesetzgeber die Rspr. des EuGH zur Versagung des Vorsteuerabzugs bei Kenntnis oder Kennenmüssen einer Umsatzsteuerhinterziehung durch Einführung des seit dem 1.1.2020 geltenden § 25f UStG umgesetzt. Für die Vorjahre ist nach dem EuGH jedoch auch ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage im nationalen Recht die entsprechende Rechtsfolge durch direkte Anwendung des Unionsrechts zu bewirken. Für Umsätze in der Zeit vor dem 1.1.2020 stellte sich insb. das Problem einer Doppel- oder Dreifachbelastung durch kumulative Anwendung des § 25d UStG a.F. (s. hierzu Rz. 1400).
Rz. 1414
Für den Stpfl. entscheidend ist weiterhin die praktische Handhabung der Missbrauchsrechtsprechung durch die nationalen FinB und Gerichte. Der EuGH hat betont, dass dem Stpfl. ein Recht auf Steuerbefreiung, Vorsteuerabzug oder Erstattung (nur dann) zu versagen ist, „wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird”. Es stellt sich stets im Einzelfall die Frage, ob derart gesicherte Erkenntnisse anzunehmen sind. Die weitreichenden Rechtsfolgen ergeben sich nur, wenn zum einen das Vorliegen einer Steuerhinterziehung eines Unternehmers in der Lieferkette objektiv feststeht und zum anderen das "kognitive" Element beim Stpfl. (mindestens "wissen müssen") festgestellt werden kann.
Hinreichende Feststellungen für Steuerhinterziehung des anderen Unternehmers in der Lieferkette sind m.E. praktisch nur im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung (in einem anderen Mitgliedsstaat) denkbar. Fehlt es an einer Verurteilung, wird es für die FinB bzw. das Gericht äußerst schwierig sein, hinreichende Feststellungen zu treffen. Dies gilt umso mehr, wenn die Steuerhinterziehung nicht nach deutschem Recht, sondern nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats zu beurteilen ist. Bei nur eingeleiteten, aber noch nicht abgeschlossenen steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren wird in der Praxis wohl m...