Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1094
Da § 370 Abs. 3 AO keinen eigenständigen Tatbestand, sondern nur eine Strafzumessungsregel enthält, muss die Versuchsstrafbarkeit nicht gesondert angeordnet werden. Umstritten ist indes, wie der "Versuch" von Regelbeispielen zu beurteilen ist. Der BGH sieht zwischen Regelbeispielen und Qualifikationstatbeständen keinen tiefgreifenden Wesensunterschied und behandelt die Regelbeispiele weitgehend wie Tatbestandsmerkmale.
Rz. 1095
Im Zusammenhang mit Regelbeispielen sind letztlich drei Versuchskonstellationen zu unterscheiden:
Ist das Grunddelikt nur versucht, das Regelbeispiel hingegen verwirklicht, ist nach h.M. von der Regelwirkung auszugehen, so dass grds. eine versuchte Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall gegeben ist. Gleichwohl ist zu prüfen, ob der geringere Unwertgehalt der versuchten Tat die Regelwirkung nicht entkräftet.
Im Fall der doppelten Versuchskombination (Grunddelikt und Regelbeispiel wurden nur versucht) ist nach Ansicht des BGH der Strafrahmen des besonders schweren Falls anzuwenden (versuchte Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall), wenn der Täter zur Verwirklichung des Regelbeispiels unmittelbar angesetzt hat. Dies hat der BGH im Jahr 2010 in einer Entscheidung zu § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO, in der eine Steuerhinterziehung in großem Ausmaß beabsichtigt war, die ungerechtfertigte Steuererstattung jedoch ausgeblieben ist, nunmehr – in Übereinstimmung mit seiner Rspr. zu § 243 StGB – ausdrücklich auch für den Tatbestand der Steuerhinterziehung entschieden:
"Für den Eintritt der Regelwirkung der Regelbeispiele besonders schwerer Steuerhinterziehungen gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 AO kann es bei der versuchten Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 2 AO) nur darauf ankommen, ob der Täter nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Regelbeispiels bereits unmittelbar angesetzt hat. Denn bei der versuchten Steuerhinterziehung ist auch für die Indizwirkung der Regelbeispiele auf die subjektive Tatseite abzustellen."
Zur Ausführung der Tat setzt der Täter nicht bereits mit der Verwirklichung des Regelbeispiels i.S.d. § 370 Abs. 3 AO an, sondern es sind allein die zur Steuerhinterziehung führenden Tathandlungen maßgebend (zum Versuchsbeginn s. Rz. 699 ff.).
In der Literatur wird im Fall der doppelten Versuchskombination die Indizwirkung des Regelbeispiels abgelehnt und eine Anwendung des erhöhten Strafrahmens nur aufgrund einer Gesamtbewertung zugelassen.
Rz. 1096
In der dritten Fallkonstellation ist das Grunddelikt vollendet, das Regelbeispiel dagegen nur versucht. Der Täter beabsichtigt beispielsweise eine Steuerhinterziehung in großem Ausmaß i.S.d. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO, tatsächlich tritt die Steuerverkürzung jedoch nur in einem Umfang ein, der die Grenze des großen Ausmaßes nicht überschreitet. In der Literatur wird die Regelwirkung der Regelbeispiele in dieser Fallkonstellation überwiegend abgelehnt. Demnach kommt eine Bestrafung nur aus dem Strafrahmen des vollendeten Grunddelikts in Betracht. Für den Versuch der Verwirklichung des Regelbeispiels besteht daneben kein Raum. Eine vollendete Steuerhinterziehung im versuchten besonders schweren Fall kommt nach der überwiegenden Literaturauffassung allenfalls aufgrund eines eng begrenzten Analogieschlusses in Betracht. Der BGH hat im Fall einer Vollendung des § 177 Abs. 1 StGB und einem Versuch des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB eine Indizwirkung des Regelbeispiels abgelehnt. Gleichwohl hat er auch in dieser Entscheidung darauf hingewiesen, dass die Annahme eines Regelbeispiels außerhalb eines besonders schweren Falls nicht ausgeschlossen ist, dies jedoch eine Gesamtwürdigung aller für die Strafzumessung wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände voraussetzt.
Rz. 1097
In allen vorbezeichneten Versuchskonstellationen gilt, soweit der Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO zur Anwendung kommt, die fakultative Strafmilderung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB.