Rz. 1408

[Autor/Stand] Der Ursprung für die heutige Rspr. zur Versagung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen ist sicher bereits in den zum Vorsteuerabzug ergangenen EuGH-Urteilen (s. Rz. 1402) zu sehen. Konkret mit der möglichen Einschränkung der Steuerbefreiung für Lieferungen ins EU-Ausland bei missbräuchlicher Erlangung der Befreiung hatte der EuGH sich auf ein Vorlageersuchen des BGH vom 7.7.2009[2] in der Rechtssache "R"[3] zu befassen.

Zuvor hatte sich der BGH seit dem Jahr 2008 in mehreren Entscheidungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit deutscher Lieferanten, die Waren an steuerunehrliche Abnehmer im EU-Ausland liefern, geäußert[4].

In seiner Entscheidung vom 20.11.2008 stellte der BGH – anknüpfend an die Rspr. des EuGH und BFH – zunächst klar, dass die Beleg- und Buchnachweise der Beförderung oder Versendung der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet künftig keine materiellen Voraussetzungen für die Befreiung von der Umsatzsteuer sind[5]. Steht aufgrund der objektiven Beweislage fest, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen, ist die Steuerbefreiung zu gewähren, und zwar auch dann, wenn der Unternehmer die erforderlichen Nachweise nicht entsprechend den §§ 17a, 17c UStDV a.F. erbracht hat. Unzutreffende Angaben des Stpfl. im Rahmen eines Beleg- und Buchnachweises stellen damit grds. keine Steuerhinterziehung dar.

Gleichwohl stellt nach Ansicht des Senats die Lieferung von Gegenständen an einen Abnehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung i.S.d. § 6a UStG dar, wenn der inländische Unternehmer in kollusivem Zusammenwirken mit dem tatsächlichen Abnehmer die Lieferung an einen Zwischenhändler vortäuscht, um dem Abnehmer die Hinterziehung von Steuern zu ermöglichen. Wird eine solche Lieferung durch den inländischen Unternehmer gleichwohl als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung erklärt, macht der Unternehmer gegenüber den FinB unrichtige Angaben i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO und verkürzt dadurch die auf die Umsätze nach § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 13 Abs. 1 Nr. 1, § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG anfallende und von ihm geschuldete Umsatzsteuer[6].

Zur Begründung dieses Ergebnisses zog der BGH den "gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriff" heran. Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht sei nicht erlaubt. Daher seien denjenigen Umsätzen, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen, ebendiese Vorteile zu versagen[7].

 

Rz. 1408.1

[Autor/Stand] Das FG Baden-Württemberg trat im Beschluss vom 11.3.2009[9] der Rechtsansicht des BGH entgegen und gewährte im Besteuerungsverfahren die Aussetzung der Vollziehung. Der BFH bestätigte die gewährte Aussetzung der Vollziehung, da er es für zweifelhaft erachtete, ob die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung – wie vom BGH angenommen – wegen missbräuchlicher Berufung auf das Gemeinschaftsrecht versagt werden kann, weil der Lieferant zur Steigerung seines Umsatzes vorsätzlich falsche Belege ausstellt, die allein der Hinterziehung von Umsatzsteuer durch die Abnehmer im Empfängerstaat dienen[10].

 

Rz. 1408.2

[Autor/Stand] Die Auffassung des BGH blieb auch in der Literatur[12] nicht ohne Kritik. Zweifel wurden dahin gehend geäußert, ob die Auslegung mit dem Wortsinn des § 6a UStG zu vereinbaren sei, was folglich zu einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG führen würde.

 

Rz. 1408.3

[Autor/Stand] Sogar das BVerfG trat diesen Bedenken mit einstweiliger Anordnung vom 23.7.2009 zunächst bei[14]. Eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sei nicht von vornherein ausgeschlossen und daher in dem vom BGH mit Beschluss vom 20.11.2008 entschiedenen Fall[15] die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.

Die obersten deutschen Bundesgerichte hatten widersprüchliche Entscheidungen hinsichtlich der zentralen Frage getroffen, ob die Anerkennung einer innergemeinschaftlichen Lieferung, trotz Verwirklichung sämtlicher objektiver Tatbestandsmerkmale der Steuerbefreiung, versagt werden kann, wenn der Verkäufer und der Käufer vorsätzlich zusammengearbeitet haben[16]. Vor diesem Hintergrund beschloss der BGH in dem der Entscheidung des FG Baden-Württemberg[17] zugrunde liegenden Verfahren die Vorlage der Rechtsfrage an den EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EG a.F. (heute Art. 267 Abs. 3 AEUV)[18].

 

Rz. 1409

[Autor/Stand] In seiner Entscheidung vom 7.12.2010 bestätigte der EuGH in dem Verfahren "R" schließlich die Rechtsansicht des BGH[20]. Den Mitgliedstaaten ist es demnach erlaubt, dem Lieferanten die Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung zu versagen, wenn dieser dem Erwerber vorsätzlich ermöglicht, die Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland zu umgehen. Dabei hat der EuGH darauf hingewiesen, dass gerade die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und etwaiger Missbräuche ein...

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