Rz. 823
Eher kann es zu Überschneidungen zwischen der allgemeinen Rücktrittsregelung und der Selbstanzeige bei Versuchskonstellationen kommen, die dem beendeten Rücktritt entsprechen.
Beispiel
A reicht bei der FinB eine Steuererklärung ein, die in mehreren Punkten falsche Angaben über die Besteuerungsgrundlagen enthält. Bevor die FinB über seine Veranlagung entscheidet, entschließt sich A, die Steuererklärung zurückzuziehen und eine richtige nachzureichen. Während er im Flur der FinB darauf wartet, deswegen bei dem zuständigen Beamten vorgelassen zu werden, "erscheint" in seinen Geschäftsräumen ein Prüfer, der damit die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO auslöst.
Schließt das Erscheinen des Prüfers (§ 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO) die Straffreiheit sowohl gem. § 371 AO als auch gem. § 24 StGB aus?
Für diesen Fall verdrängte nach früher vertretener Ansicht § 371 AO als lex specialis § 24 StGB selbst dann, wenn nur die Voraussetzungen des Rücktritts vorliegen, mit der Folge, dass dem Täter die Straffreiheit verwehrt blieb. Nach der heute herrschenden Auffassung (s. Nachw. in Rz. 821) ist dagegen festzuhalten, dass auch in dem Beispielsfall der Täter Straffreiheit wegen Rücktritts gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB erlangen kann, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern. Dies gilt jedoch nur in dem etwas konstruierten Beispielsfall, in dem zwar bereits ein "Erscheinen" i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO anzunehmen ist, der Stpfl. jedoch hiervon noch nicht persönlich Kenntnis erlangt hat und daher seine Entscheidung zur Abgabe einer richtigen Steuererklärung unabhängig davon trifft, also "freiwillig" i.S.d. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB handelte.
Rz. 824
In vielen Fällen, in denen die Selbstanzeige wegen Vorliegens der Voraussetzungen eines prüfungsbedingten Sperrgrundes nach § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a–e AO oder wegen Tatentdeckung nach § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO nicht mehr möglich ist, scheidet auch ein Rücktritt aus, da der Täter unfreiwillig handelt.
Beispiel 3
Zum Sachverhalt vgl. Beispiel bei Rz. 637.
Der BGH kam zu dem Schluss, dass angesichts des einfachen und leicht überschaubaren Sachverhalts die Tat bereits i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO entdeckt war. Straffreiheit infolge § 371 AO schied damit aus. Auch für einen Rücktritt vom beendeten Versuch nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB sei kein Raum. Denn nachdem das FA den Sachverhalt aufgedeckt und die Steufa eingeschaltet habe, sei die weitere Durchführung der Tat nicht mehr möglich gewesen. Eine steuerliche Anerkennung der manipulierten Rechnung sei ausgeschlossen gewesen. Damit fehle es an der Freiwilligkeit des Rücktritts.
Rz. 825
Beispiel 5
Der Stpfl. S gibt im April 2015 eine Selbstanzeige wegen hinterzogener Einkünfte im Zusammenhang mit einem Auslandskonto für die Jahre 2008–2012 ab. In 2013 hatte er ebenfalls Einkünfte aus dieser Bankverbindung, die er in seiner Steuererklärung für 2013 angibt, die von seinem mit der Erstellung der laufenden Erklärungen beauftragten Steuerberater im Juli 2015 abgegeben wird.
Vonseiten der FinB wird in dieser Konstellation teilweise die Unwirksamkeit der Selbstanzeige angenommen. Als Begründung wird angeführt, die Selbstanzeige sei nicht vollständig, da sie auch Angaben für das Jahr 2013 hätte enthalten müssen. Mit Verstreichenlassen der letzten Frist zur Abgabe der Steuererklärung sei nämlich insoweit der Versuch einer Steuererklärung anzunehmen, so dass auch dieses Jahr in den Berichtigungsverbund der Selbstanzeige hätte aufgenommen werden müssen. Da S einen Steuerberater mit der Abgabe der Steuererklärungen beauftragt hat, ist die Frist zur Abgabe der Einkommensteuererklärung 2013 grds. der 31.12.2014. Die Frist wäre also am 1.1.2015 verstrichen. Meines Erachtens scheidet eine versuchte Steuerhinterziehung jedoch aus: Für eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO fehlt es am 1.1.2015 am unmittelbaren Ansetzen, das – nach der insoweit maßgeblichen Vorstellung des S (vgl. § 22 StGB) – erst mit Abgabe der Erklärung angenommen werden kann. Für eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO fehlt es am Tatentschluss, da S ja – wenn auch verspätet – eine vollständige Steuererklärung einreichen will. Würde man demgegenüber eine versuchte Steuerhinterziehung annehmen, wäre S von dem Versuch gem. § 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB mit Abgabe der Steuererklärung im Juli 2015 wirksam zurückgetreten. Die Selbstanzeige wäre dann ohne Angaben zu 2013 wirksam. In der Praxis sollte in der in dem vorstehenden Beispiel dargestellten Situation jedoch dazu geraten werden, die Einkünfte für das Jahr (im Beispiel) 2013 in das Nacherklärungsschreiben vollständig mit aufzunehmen. Sollte die Erstellung der Steuererklärung noch nicht abgeschlossen sein, kann mit einer Schätzung der sonstigen Besteuerungsgrundlagen für 2013 gearbeitet werden.