Rz. 820
Da eine Selbstanzeige gem. § 371 AO auch beim Versuch der Steuerhinterziehung strafbefreiend wirkt, stellt sich die Frage, ob daneben auch der allgemeine Strafaufhebungsgrund des Rücktritts vom Versuch gem. § 24 StGB Anwendung findet (dazu § 370 Rz. 731 ff.) oder ob § 371 AO als lex specialis § 24 StGB verdrängt.
§ 371 AO unterscheidet sich von § 24 StGB im Wesentlichen dadurch, dass er
- die Möglichkeiten, durch "Rückkehr zur Steuerehrlichkeit" Straffreiheit zu erlangen, aus fiskalischen Gründen wesentlich erweitert (Straffreiheit auch dann, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg bereits eingetreten ist; damit wird quasi der Rücktritt vom vollendeten Delikt ermöglicht) und subjektiv nicht voraussetzt, dass der Täter "freiwillig" gehandelt hat;
- die Wirksamkeitsvoraussetzungen einengt durch das Erfordernis einer Berichtigungserklärung und das Vorliegen objektiv feststellbarer Tatumstände.
Rz. 821
Das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden, teils sich deckenden Vorschriften ist nach ihrem Zweck zu bestimmen. Danach stehen beide Vorschriften selbständig nebeneinander, d.h. § 24 StGB ist auch auf den Versuch einer Steuerhinterziehung anwendbar und wird nicht durch § 371 AO als lex specialis verdrängt. Treten bei einer versuchten Steuerhinterziehung die Vorschriften zueinander in Konkurrenz, findet die für den Täter günstigere Regelung Anwendung. Zur Begründung hat der BGH ausgeführt, dass in Fällen des § 24 StGB nach der gesetzgeberischen Entscheidung das Strafbedürfnis wegen der geringeren Gefährlichkeit und Strafwürdigkeit des (zurückgetretenen) Täters entfalle; dies gelte für das gesamte Strafrecht, über § 369 Abs. 2 AO auch für das Steuerstrafrecht. Die in § 369 Abs. 2 AO vorgesehene Einschränkung der Geltung der allgemeinen Gesetze über das Strafrecht führt nicht zur Verdrängung des § 24 StGB durch § 371 AO, denn § 371 AO erweitert die Möglichkeiten des Abstandnehmens von Steuerstraftaten unabhängig vom Maß der Strafwürdigkeit und Gefährlichkeit des Täters aus steuerpolitischen Gründen.
1. Rücktritt vom unbeendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB)
Rz. 822
Da der Versuch der Steuerhinterziehung regelmäßig mit Abgabe der Steuererklärung bei der FinB bzw. im Falle des Unterlassens mit dem Verstreichenlassen der steuerlichen Erklärungsfristen beendet ist (vgl. § 370 Rz. 735), kommt dem Rücktritt im Falle des unbeendeten Versuchs, der durch bloße freiwillige Aufgabe des weiteren Handelns möglich ist, keine nennenswerte praktische Bedeutung zu. Straffreiheit kann der Täter in diesen Fällen nur durch aktives Tun, d.h. durch Abgabe einer Berichtigungserklärung erlangen.
Denkbar ist der Rücktritt vom unbeendeten Versuch dagegen im Bereich der Eingangsabgabenhinterziehung, z.B. durch freiwillige Aufgabe des versuchten Schmuggels vor Grenzübertritt.
2. Rücktritt vom beendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB)
Rz. 823
Eher kann es zu Überschneidungen zwischen der allgemeinen Rücktrittsregelung und der Selbstanzeige bei Versuchskonstellationen kommen, die dem beendeten Rücktritt entsprechen.
Beispiel
A reicht bei der FinB eine Steuererklärung ein, die in mehreren Punkten falsche Angaben über die Besteuerungsgrundlagen enthält. Bevor die FinB über seine Veranlagung entscheidet, entschließt sich A, die Steuererklärung zurückzuziehen und eine richtige nachzureichen. Während er im Flur der FinB darauf wartet, deswegen bei dem zuständigen Beamten vorgelassen zu werden, "erscheint" in seinen Geschäftsräumen ein Prüfer, der damit die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO auslöst.
Schließt das Erscheinen des Prüfers (§ 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO) die Straffreiheit sowohl gem. § 371 AO als auch gem. § 24 StGB aus?
Für diesen Fall verdrängte nach früher vertretener Ansicht § 371 AO als lex specialis § 24 StGB selbst dann, wenn nur die Voraussetzungen des Rücktritts vorliegen, mit der Folge, dass dem Täter die Straffreiheit verwehrt blieb. Nach der heute herrschenden Auffassung (s. Nachw. in Rz. 821) ist dagegen festzuhalten, dass auch in dem Beispielsfall der Täter Straffreiheit wegen Rücktritts gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB erlangen kann, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern. Dies gilt jedoch nur in dem etwas konstruierten ...