aa) Erfordernis der eigenen Wahrnehmung
Rz. 633
Bereits vom Wortsinn her setzt der Begriff des "Entdeckens" mehr voraus als die bloße Verdachtsschöpfung. Eine Tat kann i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO erst dann als entdeckt angesehen werden, wenn der Entdecker zumindest einen Teil des wirklichen Tatgeschehens oder der Tatfolgen unmittelbar selbst wahrgenommen hat. Durch das Erfordernis der unmittelbaren Selbstwahrnehmung der Tatwirklichkeit unterscheidet sich die Tatentdeckung von dem bloßen Tatverdacht, der sich z.B. auch auf Bekundungen von Zeugen vom Hörensagen stützen kann (zur Frage der Konkretisierung des Tatverdachts s. Rz. 634 ff.).
Beispiel
Die FinB stellt gelegentlich einer Betriebsprüfung bei B fest, dass A von diesem Einkünfte i.H.v. 25.000 EUR bezogen hat. In seiner Steuererklärung hatte A seine Einkünfte mit 15.000 EUR beziffert. Seine Tat ist damit entdeckt. Beschränkt sich das Wissen der FinB von dieser Tat lediglich auf das, was ihr Dritte mitgeteilt haben, die selbst keine eigenen Wahrnehmungen gemacht haben, so kann man allenfalls von einem bloßen Tatverdacht sprechen.
bb) Konkretisierung des Tatverdachts
Rz. 634
Umstritten ist, wann eine "Tatentdeckung" i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO anzunehmen ist. Eine Ansicht vertritt eine weite Auslegung des Entdeckungsbegriffs und lässt es genügen, wenn aufseiten des Entdeckers weniger oder so viel an Erkenntnissen vorhanden ist, wie zur Einleitung eines Strafverfahrens erforderlich ist (sog. Anfangsverdacht). Danach stellt sich die Tatentdeckung als Vorstufe des Tatverdachts i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO dar.
Rz. 635
Wie aber bereits ausgeführt, setzt das Entdecken i.S.d. unmittelbaren Selbstwahrnehmung mehr voraus als den bloßen Tatverdacht, bei dessen Vorliegen die FinB bereits zur Einleitung des Steuerstrafverfahrens verpflichtet ist (vgl. § 397 AO). Die ganz überwiegende Meinung, insb. auch die Rspr., fasst den Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Recht enger. Danach reicht eine Entdeckungsgefahr oder ein bloßer Anfangsverdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO für die Tatentdeckung nicht aus.
Der Tatverdacht muss sich so weit konkretisiert haben, dass bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist (zu den Einschränkungen in der jüngsten Rspr. s. Rz. 638 ff.).
Beispiel 6
A, der als Prokurist für eine Firma handelte, stellte in Kenntnis der Sach- und Rechtslage beim HZA einen unbegründeten Antrag auf Verzicht der Ausgleichsabgabe für importiertes Milchpulver. Diesem Antrag legte A rückdatierte Kontrakte mit dem niederländischen Exporteur bei. Nachdem die niederländische Zollfahndung auf Ersuchen des Zollkriminalinstituts Köln bei der niederländischen Lieferfirma Ermittlungen aufgenommen hatte, wovon der Angeklagte erfuhr, erstattete seine Arbeitgeberin auch für ihn Selbstanzeige.
Nach Ansicht des BGH war die Tat des A noch nicht "entdeckt" i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Entdeckt in diesem Sinne sei die Tat nicht schon bei bloßem Tatverdacht. Das Merkmal der Tatentdeckung erfordere mehr als die Kenntnis von Anhaltspunkten, die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Anlass geben können. Maßgebend sei auch nicht der Zeitpunkt, in dem die FinB zu der Schlussfolgerung komme, es sei eine Steuerverkürzung vorgenommen worden. Es bedürfe vielmehr einer Konkretisierung des Tatverdachts, die gegeben sei, wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses bestehe.
Im Beispielsfall konnte aus Sicht des BGH den bisherigen Feststellungen nicht entnommen werden, dass die FinB mehr als einen bloßen Anfangsverdacht hatte. Zwar habe das HZA Ermittlungen aufgenommen. Eine Bestätigung des Verdachts sei durch die Ermittlungen jedoch noch nicht festgestellt worden. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wurde erst "aufgrund" der auch für A abgegebenen Selbstanzeige der Arbeitgeberin eingeleitet. Der Wirksamkeit der Selbstanzeige stand nicht § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO entgegen, da die Tatentdeckung zu diesem Zeitpunkt nicht feststand.
Rz. 636
Indem die Rspr. auf die "Vorläufigkeit" der Tatbewertung abstellt, wird deutlich, dass die Ermittlungsbehörden noch nicht sämtliche Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben müssen, um zu dieser Bewertung zu kommen. Auch müssen die wahren Besteuerungsgrundlagen nicht bereits bekannt sein. Es genügt die Kenntnis, dass der Stpfl. durch Nichtabgabe oder durch die Abgab...