aa) Begriff der "Tat"
Rz. 643
Der Begriff der "Tat" ist – ebenso wie bei § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO – nicht im strafprozessualen, sondern im materiell-rechtlichen Sinne zu verstehen (s. Rz. 604 f.).
Der BGH hat in seiner ersten Entscheidung zum Begriff der "Tatentdeckung" nach Aufgabe der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung im Jahr 1994 Stellung bezogen. Der Senat hat dabei bzgl. der Sperrwirkung weder den (hier in Rz. 604 f., 750 ff. vertretenen) Tatbegriff im materiell-rechtlichen noch den im strafprozessualen Sinn herangezogen, sondern zur Bestimmung der "Tat" auf die einzelne Handlung, d.h. auf die Nichtabgabe bzw. die Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung abgestellt. Die einzelne Tat i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO bestimme sich folglich nach Steuerart, Besteuerungszeitraum und Stpfl..
Rz. 644
Die Folgerung von Jäger, es ergäben sich aus der Zugrundelegung der unterschiedlichen Tatbegriffe in der Praxis – abgesehen von dem Fall des tateinheitlichen Zusammentreffens – keine Unterschiede, geht jedoch fehl. Nach hier vertretener Auffassung ist für den im materiell-rechtlichen Sinne zu verstehenden Tatbegriff nicht die einzelne Steuererklärung, sondern die Nichterfüllung bestimmter materieller Mitwirkungspflichten bzgl. einzelner Besteuerungsgrundlagen entscheidend (s. Rz. 605, 615). Hat die FinB z.B. Kenntnis von der Nichtangabe bestimmter Zinseinkünfte für den VZ 01, so hindert dies nicht die wirksame Selbstanzeige bzgl. unrichtig erklärter Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, obwohl beide Angaben mit der Einkommensteuererklärung 01 gemacht wurden.
Rz. 645
Im Zusammenhang mit Schwarzgeldkonten im Ausland kommt der Auslegung des Tatbegriffs ferner entscheidende Bedeutung für die Frage zu, ob die Tat durch die Abgabe einer Selbstanzeige bzgl. eines Kontos sogleich hinsichtlich sämtlicher existierender Konten entdeckt ist (s. dazu Rz. 248 f.). Hat ein Stpfl. für die VZ 01–05 eine Selbstanzeige für ein Liechtensteinisches Konto abgegeben, könnte einer späteren Selbstanzeige für ein Schweizer Konto für die VZ 03–07 hinsichtlich der VZ 03–05 die Entdeckung der Tat entgegenstehen (zur Problematik der Unwirksamkeit der ersten Teilselbstanzeige, s. Rz. 242 ff.). Stellt man mit dem BGH auf Steuerart, Besteuerungszeitraum und Stpfl. ab, ist die Tat für die VZ 03–05 durch die erste Selbstanzeige entdeckt. Die VZ 06–07 sind hingegen noch nicht entdeckt, da es sich insoweit um neue Taten handelt, auf die sich die erste Selbstanzeige nicht bezog. Nach der durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz geänderten Fassung des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Entdeckung einer Tat zugleich die Sperrwirkung hinsichtlich sämtlicher Taten der betroffenen Steuerart auslöst (s. dazu Rz. 750 ff., 765), so dass auch die VZ 06–07 als entdeckt gelten würden. Das weite Verständnis des Tatbegriffs durch den BGH ist zumindest insoweit einzuschränken, als die Taten nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens nicht mehr als entdeckt gelten, so dass die Selbstanzeigemöglichkeit wiederauflebt (s. Rz. 250 f.). Nach der hier vertretenen Ansicht ist die Tat hinsichtlich des zweiten Kontos dagegen insgesamt noch nicht entdeckt. Die Kapitaleinkünfte aus dem Schweizer Konto stellen eine eigenständige – von den Kapitaleinkünften des Liechtensteinischen Kontos unterschiedliche – Besteuerungsgrundlage dar.
Rz. 646
Nur diese Auslegung des Tatbegriffs im Rahmen des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO wird dem Zweck der Selbstanzeige (s. Rz. 30 ff., 42) gerecht. So handelt es sich bei dem zweiten Konto um eine eigenständige Steuerquelle, die dem Fiskus nach wie vor unbekannt ist. Aus fiskalischen Erwägungen besteht daher nach wie vor das Bedürfnis, auch diese bislang verheimlichte Steuerquelle zu erschließen, was letztlich nur über den Anreiz der Straffreiheit im Falle einer Selbstanzeige erreicht werden kann. Die Ansicht der Rspr. steht dagegen der Erfüllung der steuerlichen Pflichten tatsächlich entgegen. Muss ein Stpfl. nämlich trotz nachträglicher vollständiger Offenlegung seiner ausländischen Kapitaleinkünfte mit einer Strafe rechnen, wird er regelmäßig von einer Selbstanzeige absehen und die der FinB noch nicht bekannte Steuerquelle weiterhin zunächst verborgen bleiben. Wenngleich die freiwillige Offenlegung auch bei Annahme von Tatentdeckung strafmildernd zu berücksichtigen wäre, ist der Anreiz zur Offenlegung nicht so groß wie bei Aussicht auf (insoweit) vollständige Straffreiheit.