Rz. 634
Umstritten ist, wann eine "Tatentdeckung" i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO anzunehmen ist. Eine Ansicht vertritt eine weite Auslegung des Entdeckungsbegriffs und lässt es genügen, wenn aufseiten des Entdeckers weniger oder so viel an Erkenntnissen vorhanden ist, wie zur Einleitung eines Strafverfahrens erforderlich ist (sog. Anfangsverdacht). Danach stellt sich die Tatentdeckung als Vorstufe des Tatverdachts i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO dar.
Rz. 635
Wie aber bereits ausgeführt, setzt das Entdecken i.S.d. unmittelbaren Selbstwahrnehmung mehr voraus als den bloßen Tatverdacht, bei dessen Vorliegen die FinB bereits zur Einleitung des Steuerstrafverfahrens verpflichtet ist (vgl. § 397 AO). Die ganz überwiegende Meinung, insb. auch die Rspr., fasst den Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Recht enger. Danach reicht eine Entdeckungsgefahr oder ein bloßer Anfangsverdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO für die Tatentdeckung nicht aus.
Der Tatverdacht muss sich so weit konkretisiert haben, dass bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist (zu den Einschränkungen in der jüngsten Rspr. s. Rz. 638 ff.).
Beispiel 6
A, der als Prokurist für eine Firma handelte, stellte in Kenntnis der Sach- und Rechtslage beim HZA einen unbegründeten Antrag auf Verzicht der Ausgleichsabgabe für importiertes Milchpulver. Diesem Antrag legte A rückdatierte Kontrakte mit dem niederländischen Exporteur bei. Nachdem die niederländische Zollfahndung auf Ersuchen des Zollkriminalinstituts Köln bei der niederländischen Lieferfirma Ermittlungen aufgenommen hatte, wovon der Angeklagte erfuhr, erstattete seine Arbeitgeberin auch für ihn Selbstanzeige.
Nach Ansicht des BGH war die Tat des A noch nicht "entdeckt" i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Entdeckt in diesem Sinne sei die Tat nicht schon bei bloßem Tatverdacht. Das Merkmal der Tatentdeckung erfordere mehr als die Kenntnis von Anhaltspunkten, die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Anlass geben können. Maßgebend sei auch nicht der Zeitpunkt, in dem die FinB zu der Schlussfolgerung komme, es sei eine Steuerverkürzung vorgenommen worden. Es bedürfe vielmehr einer Konkretisierung des Tatverdachts, die gegeben sei, wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses bestehe.
Im Beispielsfall konnte aus Sicht des BGH den bisherigen Feststellungen nicht entnommen werden, dass die FinB mehr als einen bloßen Anfangsverdacht hatte. Zwar habe das HZA Ermittlungen aufgenommen. Eine Bestätigung des Verdachts sei durch die Ermittlungen jedoch noch nicht festgestellt worden. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wurde erst "aufgrund" der auch für A abgegebenen Selbstanzeige der Arbeitgeberin eingeleitet. Der Wirksamkeit der Selbstanzeige stand nicht § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO entgegen, da die Tatentdeckung zu diesem Zeitpunkt nicht feststand.
Rz. 636
Indem die Rspr. auf die "Vorläufigkeit" der Tatbewertung abstellt, wird deutlich, dass die Ermittlungsbehörden noch nicht sämtliche Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben müssen, um zu dieser Bewertung zu kommen. Auch müssen die wahren Besteuerungsgrundlagen nicht bereits bekannt sein. Es genügt die Kenntnis, dass der Stpfl. durch Nichtabgabe oder durch die Abgabe einer falschen Steuererklärung Steuern verkürzt hat. Maßgebend für die Tatentdeckung ist nach Ansicht des BGH die einzelne unterlassene oder unrichtige Steuererklärung (Näheres hierzu in Rz. 643). Für jede muss die notwendige "Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses" gegeben sein, wobei "eine grobe Kenntnis des Gesamtgeschehens nicht ausreicht". Hierzu muss der Tatrichter wegen der revisionsgerichtlichen Überprüfbarkeit der Wirksamkeit von Selbstanzeigen im Urteil konkrete Feststellungen treffen. Das gilt insb. bei langen Tatserien und mehreren gleichartigen Taten. Im Entscheidungsfall hätte das LG "zumindest darlegen müssen, dass die konkreten Erkenntnisse, auf die sich die Verurteilungserwartung stützt, gerade für diejenigen Taten bereits vorgelegen haben, hinsichtlich derer spätere Selbstanzeigen abgegeben wurden".
Rz. 637
Andererseits erfordert die Entdeckung i.S.d. § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO nicht die zur Verurteilung erforderliche Überzeugung.
Beispiel 11
Aufgrund eines anfänglichen Verdachts, die vom Angeklagten mit der Umsatzsteuererklärung vorgelegte Rechnung könne nicht richtig sein, schaltete das FA die Steufa ein. Nachdem der Sachverhalt mit dem Angeklagten bei der Steufa-Stelle erörtert worden war und die Steufa weitere Ermittlungen durchgeführt hatte, gewann das FA noch vor der Berichtigungserklärung des Angeklagten die Überzeugung, dass die Rechnung "falsch" und deshalb steuerlich nicht anzuerkennen sei.
Da es sich um einen tatsächlich und steuerlich einfachen, leicht überschaubaren Sachverhalt handelte, ließen die getroffenen Feststellungen nach Auffassung des BGH nur ...