Rz. 11
Die Unterbrechungstatbestände des § 78c StGB beziehen sich dem Zusammenhang und teilweise auch dem Wortlaut ("Beschuldigter", "Angeschuldigter") nach auf eine Person, gegen die sich ein Straftatverdacht richtet (§§ 157, 152 StPO). Ist jemand hingegen nur einer Ordnungswidrigkeit verdächtig, ist er nicht "Beschuldigter" oder "Angeschuldigter", sondern "Betroffener" (vgl. § 55 OWiG). Die Einleitung eines Strafverfahrens würde daher nicht den Lauf der Bußgeldverjährung, die Einleitung des Bußgeldverfahrens nicht die strafrechtliche Verjährung unterbrechen. Die – am Ende der Ermittlungen – sich als fehlerhafte herausstellende Wahl des Vorwurfs – z.B. § 370 AO statt § 378 AO – könnte dazu führen, dass der Sachverhalt aufgrund eingetretener Verjährung ungesühnt bliebe. Ob in anderen Regelungsbereichen diese Konsequenz eintritt, mag zweifelhaft sein, durch § 376 Abs. 2 AO wird dieses Ergebnis für Steuerverfehlungen jedenfalls vermieden. Gerechtfertigt wird dies mit der Erfahrungstatsache, dass im Zeitpunkt der Aufnahme von Ermittlungen häufig nur der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit bestehe. Ob bspw. eine leichtfertige oder eine vorsätzlich begangene Steuerverkürzung vorliegt, lässt sich nicht selten erst am Ende der Ermittlungen feststellen.
Beispiel
Die FinB ermittelt seit März 08 gegen X wegen des Verdachts der leichtfertigen Steuerverkürzung, die dieser im Jahr 01 begangen haben soll. Der Steuerbescheid für den Besteuerungszeitraum erging im Mai 03. Kurz vor Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist (vgl. § 384 AO) – im April 08 – gibt sie ihm bekannt, dass sie gegen ihn ein Bußgeldverfahren eingeleitet habe. Die Ermittlungen gestalten sich zeitraubend. Im Jahr 10 gelangt die FinB zu dem Ergebnis, dass X Steuern vorsätzlich verkürzt hat (§ 370 AO).
Ohne § 376 AO könnten die Ermittlungen wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung nicht durchgeführt und zu Ende gebracht werden, da eine Unterbrechung der Verjährung nach § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB (Bekanntgabe der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens) nicht stattgefunden hat. Die Steuerstraftat wäre mangels Unterbrechung der Verjährung im Mai 08 verjährt gewesen.
Dies wird durch die in § 376 Abs. 2 AO enthaltene Regelung vermieden, wobei einzuräumen ist, dass derartige Fälle in der Praxis keine besondere Rolle spielen, denn im Regelfall wird zu Beginn des Verfahrens Vorsatz unterstellt.
Rz. 12
Es verwundert daher nicht, dass die Auffassung vertreten wird, die Vorschrift sei schlechthin entbehrlich. Dies wird mit dem Hinweis auf die "ungehinderte" Möglichkeit begründet, ein Steuerstrafverfahren selbst dann einzuleiten und mit umfassender Unterbrechungswirkung bekannt zu geben (§ 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB), wenn noch Ungewissheit über die Begehung einer Steuerstraftat oder einer bloßen Steuerordnungswidrigkeit herrscht. Eine Bekanntgabe i.S.d. § 376 AO, § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB führt jedoch nur dann zur Unterbrechung der Verjährung, wenn konkrete Hinweise auf die tatsächliche Grundlage der Verfahrenseinleitung erfolgen. Fehlt es aber noch an hinreichenden Verdachtsmomenten für eine Steuerstraftat, so bestünde die Gefahr, dass sich die Bekanntgabe der Verfahrenseinleitung auf einen allgemein gehaltenen, formelhaften Text beschränkte, dessen Mitteilung keine Verjährungsunterbrechung bewirken kann. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten erscheint es überdies höchst fragwürdig, die Bekanntgabe der Verfahrenseinleitung wegen einer Steuerstraftat vorzunehmen, wenn dem damit einhergehenden Tatvorwurf noch kein entsprechender Tatverdacht zugrunde liegt. Die inkriminierende Wirkung vorschneller Verdachtsentäußerung wird nicht dadurch relativiert, dass die Steuerordnungswidrigkeiten im Vorfeld der Steuerhinterziehung anzusiedeln sind.