Rz. 471
Der Steuerstrafverteidiger wird sich meist auch mit einem steuerlichen Verfahren konfrontiert sehen. Im Steuerverfahren hat man nach bisher h.M. keinen Akteneinsichtsanspruch. Anders als § 29 VwVfG sieht § 91 AO ein solches Recht nicht vor, es soll aber bei Beraterwechsel gewährt werden. Im Übrigen darf das FA nach pflichtgemäßem Ermessen kostenfrei Akteneinsicht gewähren, z.B. auch als einen alternativen/ergänzenden Weg den vom Stpfl. gestellten Antrag auf Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen (Pflichtauskunft nach § 364 AO) zu bearbeiten (vgl. AEAO zu § 364). Die Verwaltung verweigert die Akteneinsicht allerdings regelmäßig, was Seer angesichts der Bedeutung der Akteneinsicht für das rechtliche Gehör (s. Rz. 475) als rechtsstaatswidrig kritisiert. Zwar könnte man bei verweigerter Akteneinsicht eine neue Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen erstreiten. Selbst bei einem obsiegenden Entscheid wird in der neuen Ermessensentscheidung die Akteneinsicht erneut verweigert, dies aber besser begründet. Zum Sonderfall der Akteneinsicht nach Falschbezichtigung vgl. § 397 Rz. 57 ff.
Es ist nach wie vor streitig, ob diese hergebrachte Sichtweise künftig über das Datenschutzrecht aufgebrochen werden könnte, zumal bereits das BVerfG mit Blick auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) die Schaffung eines Auskunftsanspruchs gefordert hatte. Mit Art. 13–15 DSGVO wurden entsprechende Informationspflichten der Behörden und Auskunftsrechte der Betroffenen geschaffen, laut denen der betroffenen Bürger grds. über die hinsichtlich seiner Person gespeicherten Daten zu informieren ist. Diese Transparenz wird allerdings durch §§ 32a ff. AO wieder eingegrenzt. Gleichwohl gewährt ein Teil der Rspr. die Akteneinsicht, während die wohl überwiegende Auffassung aus der DSGVO kein Akteneinsichtsrecht in Steuerakten ableiten will. Der BFH hat mit Blick auf Auskunftsersuchen an das BZSt allerdings die Anwendung der DSGVO nicht grds. verneint, das Akteneinsichtsgesuch vielmehr aus den Gründen der §§ 32a ff AO einzelfallbezogen und begründungspflichtig verneint; daraus lässt sich e contrario ein relativer, der Interessenabwägung zugänglicher Anspruch auf Auskunft (nicht zwingend Einsicht) ableiten. Jenseits des Streits um ein aus der DSGVO abzuleitendes Akteneinsichtsrecht bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der notwendigen Abwägung dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie dem Grundanliegen der DSGVO nach Datentransparenz künftig mehr Rechnung getragen wird Darüber hinaus besteht im Bereich des Unionsrechts, also insbesondere hinsichtlich der Umsatzsteuer, ein aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte abzuleitendes Akteneinsichtsrecht.
Rz. 472
Einen sicheren Weg zur Akteneinsicht bietet das FG-Verfahren; neben dem hier einschlägigen § 78 AO existiert laut BFH kein Akteneinsichtsrecht aus der DSGVO. Der Gang zum FG setzt allerdings voraus, dass man einen Verwaltungsakt/Steuerbescheid erhalten hat, gegen den man vorgehen kann; der Verwaltungsakt verweigerter Akteneinsicht genügt allerdings nicht. Im Fall eines Steuerbescheids wird man einen nicht begründungspflichtigen Einspruch einlegen, dieser hält den Steuerbescheid insgesamt offen (§§ 347 ff. AO). Um dem Bescheid auch die durch Einspruch nicht entfallende Vollstreckbarkeit zu nehmen, muss Aussetzung der Vollziehung (AdV) beantragt werden (§ 361 AO, § 69 FGO). Auch insoweit ist eine Begründung nicht zwingend. Parallel kann ein AdV-Antrag beim FG gestellt werden. Auch der AdV-Antrag beim FG bedarf keiner Begründung. Im FG-Verfahren darf das Gericht auch so lange keine Entscheidung treffen, wie nicht die beantragte Akteneinsicht vollständig – einschließlich etwa im Strafverfahren beschlagnahmter Unterlagen – eingesehen werden konnte.
Rz. 473
Der AdV-Antrag an das Gericht kann zum Zwecke seiner Begründung mit einem Antrag auf Beiziehung (§ 86 AO) von und Einsichtnahme (§ 78 FGO) in die vom FG im Rahmen seiner gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 76 AO) beigezogenen und ihm dann vorliegenden Akten der Behörde (des Veranlagungs-, Betriebsprüfungs-FA, der Steufa oder StA etc.) verbunden werden. Dem Anwalt steht ein Recht auf Einsicht in alle die dem Gericht vorliegenden Akten zu (§ 78 FGO), dem korrespondiert die Pflicht des FA (§ 71 Abs. 2 FGO), dem Gericht alle Akten mit Bezug zu dem Steuerverfahren – einschließlich Handakten – vorzulegen. Es soll allerdings kein Anspruch auf eine vollständige (elektronische) Kopie der Akte geben, dies erweist sich in der Praxis aber als regelmäßig unproblematisch.
Rz. 474
Soweit die Akte elektronisch geführt wird, erfolgt die Akteneinsicht seit dem 1.1.2018 durch Abruf der entsprechenden Daten (§ 78 Abs. 2 FGG). In diesen Fällen liegt die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Akteneinsicht beim Vorsitzenden bzw. Berichterstatter (§ 78 Abs. 5 FGO) an...