Rz. 19
Ermittlungshandlungen werden erst dann zu Maßnahmen i.S.d. § 397 Abs. 1 AO, wenn sie objektiv erkennbar darauf abzielen, gegen jemanden wegen eines Steuervergehens strafrechtlich vorzugehen. Ob der betreffende Amtsträger in subjektiver Hinsicht einem strafrechtlichen Verdacht nachgeht oder nicht, ist unerheblich. Darauf kann es – speziell in den problematischen Fällen der Tatentdeckung während einer Betriebsprüfung (s. Rz. 42) – schon aus Beweisgründen nicht ankommen. Entscheidend ist, wann nach objektiven Maßstäben ein Verdacht hätte angenommen werden müssen.
Für die Aufnahme der Ermittlungen ist die Unterscheidung Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit unerheblich. Die Wirkungen beziehen sich auf die "Tat" im prozessualen Sinne und nicht auf deren rechtliche Wertung (vgl. § 410 Abs. 1 Nr. 6 AO; § 376 AO und § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b, § 378 Abs. 3 AO: "Straf- oder Bußgeldverfahren"). Relevant ist dies freilich für die Wahl der Mittel, denn im Bußgeldverfahren sind bestimmte Zwangsmaßnahmen gem. § 46 Abs. 3–5 OWiG oder nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgeschlossen.
Rz. 20
Auf die Rechtmäßigkeit der verdachtsüberprüfenden Maßnahme kommt es nicht an. Der Verdächtigte erlangt in jedem Fall die Stellung und damit auch die Rechte eines Beschuldigten.
Beispiel
Betriebsprüfer B beschlagnahmt "vorsichtshalber" vermeintlich verdachtsbefangene Geschäftsunterlagen des Stpfl. Die Beschlagnahme von Unterlagen muss grundsätzlich vom Richter angeordnet werden und nur bei Gefahr im Verzug durch die StA oder ihre Hilfsbeamten (§ 98 Abs. 1 StPO). Da keine "Gefahr im Verzug" war (s. Beispiel Rz. 15.2), konnte B nicht selbst gem. §§ 386, 399 Abs. 2 Satz 2 AO die Unterlagen sicherstellen.
Gleichwohl hat B durch sein Verhalten das Strafverfahren i.S.d. § 397 Abs. 1 AO eingeleitet, so dass S die weitere Auskunft und Mitwirkung verweigern kann und auch nicht mit steuerlichen Zwangsmitteln hierzu angehalten werden kann. Diese rechtswidrige Beschlagnahme kann jedoch gem. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO angefochten werden.
Rechtswidrige Handlungen können allerdings nicht die Selbstanzeige ausschließen bzw. die Unterbrechung der Verjährung bewirken (s. Rz. 51 f.). Das gilt z.B. für sog. Scheinmaßnahmen, die allein mit dem Hintergedanken vorgenommen werden, die drohende Verjährung abzuwenden oder die Möglichkeit der Selbstanzeige auszuschließen (s. näher § 376 Rz. 143 m.w.N.). Allerdings ist der Nachweis einer entsprechenden Absicht in der Praxis schwer zu führen.
Insbesondere nicht hinreichend konkrete und damit rechtswidrige Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse (§ 399 Rz. 30 ff.) entfalten insoweit keine strafprozessuale Wirkung, weder bei der Unterbrechung der Verfolgungsverjährung (vgl. § 78c Abs. 1 Nr. 4 StGB, s. Rz. 52) noch als Ausschlussgrund für die strafbefreiende Selbstanzeige (vgl. § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b); ebenso wenig Maßnahmen, die die Steuer- oder Zollbehörden außerhalb ihres sachlichen Zuständigkeitsbereichs treffen (s. Rz. 15.4).
Rz. 21
Die Einleitung eines Strafverfahrens ist unzulässig, wenn von vornherein feststeht, dass eine Strafverfolgung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist (sog. Prozesshindernisse), bspw. bei Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20 StGB), dauernder Vernehmungsunfähigkeit oder Verjährung der Tat, offenkundig wirksamer Selbstanzeige (s. Rz. 31), Verbrauch der Strafklage, Exterritorialität oder Immunität.