Rz. 26
Das Erfordernis der geringwertigen Steuerverkürzung bzw. Folgen der Tat entscheidet bei § 398 AO, nicht aber bei § 153 StPO über die grundsätzliche Einstellungsmöglichkeit. Bei letztgenannter Norm ist es lediglich entscheidend für die Frage, ob die Zustimmung des Gerichts entbehrlich ist (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Dieser mehr oder minder unbestimmte Rechtsbegriff, der auch sonst in der Strafrechtsordnung Verwendung findet, z.B. im Bereich der Vermögensdelikte (§ 248a StGB: "geringwertige Sache") und im Strafprozessrecht (§ 153 Abs. 1 StPO: "verursachte Folgen gering"), lässt sich nicht allgemein und gesetzesübergreifend für die gesamte Strafrechtsordnung auf einen bestimmten Betrag festlegen, sondern ist im Hinblick auf den hier maßgeblichen Steuerschaden (Steuerverkürzung, unrechtmäßige Erlangung eines Steuervorteils) auslegungsbedürftig. Er eröffnet wie die Einstellungsvorschrift überhaupt den Ermittlungsbehörden einen weiten Entscheidungsspielraum.
Rz. 27
Da der Gesetzgeber keine feste Betragsgrenze genannt hat und die Beurteilung der Geringwertigkeit vor dem Hintergrund sich fortlaufend verändernder Wirtschaftsverhältnisse und erhöhender Lebenshaltungskosten einem ständigen Wandel unterworfen ist, erscheint es bedenklich, auf starre Geldbetragsgrenzen abzustellen. Eine sachgerechte Beurteilung der Geringwertigkeit i.S.d. § 398 AO bzw. § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO erfordert vielmehr eine abstrakte Wertgrenze, die sich an den jeweils aktuellen wirtschaftlichen Verhältnissen und Anschauungen, dem durchschnittlichen Erwerbseinkommen der Bevölkerung und den Lebenshaltungskosten zu orientieren hat.
Rz. 28
Diese abstrakte Betrachtungsweise wird im Grundsatz auch von der Rspr. herangezogen, wenn es darum geht, die Geringwertigkeitsgrenze im Rahmen der Vermögensdelikte des StGB, z.B. i.S.d. § 248a StGB (Geringwertigkeit einer gestohlenen oder unterschlagenen Sache), zu beurteilen. Diese wird derzeit bei einem Betrag von ca. 50 EUR angenommen. Die Einstellungspraxis zu den früheren §§ 153, 153a StPO orientierte sich letztlich auch an einer Grenze von 50 DM, stieß jedoch auch bereits damals auf Kritik.
Für Steuerstrafverfahren erscheint eine derart niedrige Wertgrenze bei § 398 AO nicht angebracht. Für die Frage der Geringwertigkeit kommt es in erster Linie auf den hinterzogenen Betrag an. Hinsichtlich der betroffenen Steuerarten ist jedoch eine differenzierende Betrachtungsweise geboten. Das Gesetz verlangt in erster Linie eine hypothetische Schuldbeurteilung, "wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre". Eine andere Sichtweise würde den Besonderheiten der Steuerdelikte nicht gerecht werden und den Anwendungsbereich des § 398 AO von vornherein auf null reduzieren, was kaum der Intention des Gesetzgebers entsprechen dürfte. Steuerverkürzungen bzw. Steuervorteile von ca. 50 EUR werden i.d.R. kaum auffallen; praktisch umfassen auch die "leichtesten" Fälle der Steuerhinterziehung jedenfalls höhere Beträge.
Zur Beurteilung der Geringfügigkeit von Steuerstraftaten werden im Schrifttum im Wesentlichen zwei gegenläufige Auffassungen vertreten:
Rz. 29
Nach objektiv-absoluter Betrachtungsweise ist die Geringfügigkeitsgrenze einheitlich für alle Hinterziehungsfälle mit einem bestimmten Betrag anzusetzen, wobei die vom Stpfl. zu erfüllende Steuerschuld als Beurteilungsmaßstab ohne Belang sein soll. Für die Geringfügigkeitsgrenze werden danach teilweise erheblich voneinander abweichende Beträge angesetzt: von 50 EUR über 300 EUR, 500 EUR und 1.000 DM bzw. 500 EUR bis zu 2.500 EUR. Diese Größenordnung erscheint angemessen, wenngleich das tatsächliche Ausmaß der Steuerverkürzung jeweils im Verhältnis der steuerlichen Verhältnisse insgesamt zu sehen ist.
Ausgehend von den Strafmaßtabellen der Finanzverwaltung entspricht dies in etwa einer Geldstrafe zwischen 10 und 20 Tagessätzen. Daran orientiert sich die Finanzverwaltung in früheren Fassungen der AStBV sogar ausdrücklich. Nach dem gesetzlichen Rahmen von 5 bis 360 Tagessätzen (§ 40 Abs. 1 Satz 2 StGB) sollte dies weniger schwerwiegende Fälle im Bagatellbereich erfassen, in denen ohnehin nur eine geringe Strafe verhängt werden würde.
Jedenfalls Beträge über 10.000 EUR mögen für eine Einstellung nach § 153a StPO bei Wirtschaftsstraftaten im Einzelfall durchaus sachgerecht sein, können aber in Ansehung des eindeutigen Wortlauts des § 398 AO bzw. § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO regelmäßig nicht mehr in den Bereich absoluter Geringwertigkeit im Sinne dieser Vorschriften fallen.
Nach hier vertretener Ansicht spricht nichts dagegen, auch in Anbetracht des Wortlauts die Geringwertigkeit der Steuerverkürzung im Lichte der jeweiligen Verhältnisse zu sehen. Insbesondere im unternehmerischen Bereich kommt es vielfach vor, dass kleinste Verfehlungen zu immensen steuerlichen Auswirkungen führen können.
Insofern ist aus der Praxis heraus zu konstatieren, dass es verschiedentl...