Rz. 38
Des Weiteren setzt eine Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit voraus, dass die Schuld des Täters für den Fall der Erweislichkeit als gering anzusehen wäre. Im Gegensatz zu der im Wesentlichen nach objektiven Gesichtspunkten zu ermittelnden Geringwertigkeit des Steuerschadens ist hier auf die individuelle Schuld des Täters abzustellen. Dies bedeutet zunächst, dass § 398 AO bzw. § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO überhaupt nur zur Anwendung kommen können, wenn nach dem Stand der Ermittlungen von dem Vorhandensein einer – und sei es noch so geringen – Schuld ausgegangen werden müsste.
Rz. 39
Obwohl die gesetzliche Formulierung lediglich eine Schuldprognose fordert, heißt dies nicht, dass Ermittlungen im Hinblick auf die Schuld des Täters überflüssig werden. Andererseits ist aber nicht erforderlich, dass eine sichere Schuldfeststellung getroffen werden muss. Ausreichend ist vielmehr eine aufgrund aufgeklärter tatsächlicher Anhaltspunkte begründete gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren mit einer Verurteilung enden würde (hypothetische Schuldbeurteilung). Bis dies sicher beurteilt werden kann, ist der Sachverhalt aufklärungsbedürftig (s. auch bereits Rz. 6).
Fehlt eine solche Wahrscheinlichkeit oder steht fest, dass der Täter nicht schuldhaft gehandelt hat, etwa weil er nicht schuldfähig war oder einem vorsatzausschließenden Tatbestands- (§ 16 StGB) bzw. unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 Satz 1 StGB) erlegen ist, bleibt für § 398 AO bzw. § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO ohnehin kein Raum. Das Verfahren ist dann schon nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichender Verdachtsgründe für ein strafbares Verhalten einzustellen.
Rz. 40
Eine geringe Schuld liegt vor, wenn sie bei Vergleich mit Vergehen gleicher Art nicht unerheblich unter dem Durchschnitt liegt (Nr. 82 Abs. 3 AStBV (St) 2023/2024, s. AStBV Rz. 82) bzw. sich eine Bestrafung im unteren Bereich des konkreten Strafrahmens bewegen würde. Auch hier kommt es wiederum auf eine Abwägung im Einzelfall an. Die in § 46 Abs. 2 StGB genannten Umstände, die für die Strafzumessung von Bedeutung sind, vermögen dabei wertvolle Anhaltspunkte zu liefern. Beweggründe und Ziele des Täters, seine Gesinnung, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Auswirkungen der Tat können geeignet sein, seine Schuld als geringfügig erscheinen zu lassen.
Bei dem Merkmal der geringen Schuld handelt es sich um eine deliktsspezifisch zu ermittelnde Strafzumessungsschuld. Im Hinblick auf das zu erwartende Strafmaß muss es sich regelmäßig um solche Fälle handeln, in denen die Verhängung einer sog. "Niedrigstrafe", also einer Geldstrafe von höchstens 10–20 Tagessätzen oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) in Betracht kommen würde, wobei die Höhe des Tagessatzes keine Rolle spielt, da diese ausschließlich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters resultiert (s. § 40 Abs. 2 StGB) und nicht seine Schuld betrifft.
Rz. 41
Die Schuld wird demnach – unter Beachtung der vorstehenden Kriterien – insbesondere in folgenden Fällen als geringfügig anzusehen sein, so dass eine Prüfung der Einstellung nach § 398 AO angezeigt, jedenfalls beachtenswert ist: fehlende Vorstrafen, bisherige Steuerehrlichkeit, ein Bemühen des Beschuldigten um Schadenswiedergutmachung, bei misslungener Selbstanzeige, Nähe zu anerkannten Rechtfertigungsgründen, Handeln aufgrund Anstiftung oder Verführung, Handeln aus Not, bei zeitlich begrenzter Steuerhinterziehung durch verspätete Abgabe der Steuererklärung, bei einem vermeidbaren Verbotsirrtum gem. § 17 Satz 2 StGB, bei Handeln mit nur bedingtem Vorsatz, wenn die Tat im Versuchsstadium stecken geblieben ist und kein erheblicher Steuerschaden beabsichtigt war (s. Rz. 34), bei altruistischem Handeln, etwa eines Angestellten zugunsten des in Liquiditätsschwierigkeiten befindlichen Arbeitgebers, wenn weder einschlägige Vorstrafen noch wiederholte, gleichgelagerte Verfahrenseinstellungen nach § 398 AO oder §§ 153 ff. StPO vorliegen, wenn der Täter die verkürzte Steuer nachzahlt und verzinst, überlange Verfahrensdauer, Grenze zum untauglichen Versuch, Nähe zu den Milderungsgründen des § 49 StGB, fahrlässiges berufliches Verhalten, fehlgeschlagene Selbstanzeige, funktionierendes Tax Compliance System, keine Verfehlungen/Beanstandungen in Altjahren, ggf. Anerkennung höherer Mehrergebnisse in Betriebsprüfung, tatsächliche Verständigung.
Rz. 42
Keine geringe Schuld und damit kein Fall des § 398 AO wird hingegen dann anzunehmen sein, wenn der Täter bereits einschlägig vorbestraft ist oder es in der Vergangenheit wiederholt zu Einstellungen nach § 398 AO oder nach §§ 153 ff. StPO wegen Steuerhinterziehung oder ähnlicher Delikte gekommen ist; wenn der Täter zur Tatzeit unter laufender Bewährung stand; ferner bei besonders raffinierter Tatausführung oder bei einem besonders hohen Maß an Pflichtwidrigkeit.