a) Einführung
Rz. 622
Der Haftbefehl wird durch die Staatsanwaltschaft (§ 36 Abs. 2 Satz 1 StPO) bzw. unmittelbar durch die Ermittlungsbeamten vollstreckt. Er erlaubt die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten zum Zwecke der Ergreifung; nicht aber die Durchsuchung der Wohnung von Dritten. Dem Beschuldigten ist bei der Verhaftung eine Abschrift des Haftbefehls auszuhändigen; beherrscht er die deutsche Sprache nicht hinreichend, erhält er zudem eine Übersetzung in einer für ihn verständlichen Sprache. Ist die Aushändigung einer Abschrift und einer etwaigen Übersetzung nicht möglich, ist ihm unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache mitzuteilen, welches die Gründe für die Verhaftung sind und welche Beschuldigungen gegen ihn erhoben werden (§ 114a StPO). Der Beschuldigte ist alsdann unverzüglich und schriftlich in einer für ihn verständlichen Sprache über seine Rechte zu belehren. In der Belehrung ist der Beschuldigte gem. § 114b StPO namentlich darauf hinzuweisen, dass er
- unverzüglich, spätestens am Tag nach der Ergreifung, dem Gericht vorzuführen ist, das ihn zu vernehmen und über seine weitere Inhaftierung zu entscheiden hat,
- das Recht hat, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen,
- zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann,
- jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann,
- das Recht hat, die Untersuchung durch einen Arzt oder eine Ärztin seiner Wahl zu verlangen, und
- einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens benachrichtigen kann, soweit der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird.
Gemäß § 114c StPO ist zwingend, auch bei ausdrücklichem Widerspruch, ein Angehöriger zu benachrichtigen.
b) Vorführung
Rz. 623
Der Beschuldigte ist nach der Verhaftung unverzüglich einem Richter vorzuführen (§§ 115, 115a StPO). Dies dient u.a. der Prüfung, ob der Vorgeführte mit der im Haftbefehl benannten Person identisch ist und ob der Haftbefehl noch besteht. Zudem hat das Gericht den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen (§ 115 Abs. 2, § 115a Abs. 2 StPO). Dabei ist ihm die Gelegenheit einzuräumen, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen (§ 115 Abs. 3 StPO).
Rz. 624
Hinweis: In jedem Fall sollten der Berater und ggf. ein Strafverteidiger der Vorführung beiwohnen. Mitunter bietet es sich an, auch die ermittelnden Steuerfahndungsbeamten beizuziehen oder ggf. den zuständigen Staatsanwalt. Denn vielfach wird der Erlass eines Haftbefehls beantragt, ohne dass ein persönlicher Eindruck des Beschuldigten vorhanden ist. Gerade im Rahmen der Vorführung ist der persönliche Eindruck des Beschuldigten jedoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Mitunter kann auf diesem Wege bereits eine Außervollzugsetzung erreicht werden. Für in diesem Zusammenhang gestellte Beweisanträge gilt § 166 StPO (Notbeweisaufnahme), d.h. die Beweiserhebung ist durch den vernehmenden Richter durchzuführen, wenn die Beweiserhebung die Freilassung des Beschuldigten begründen kann. Erheblich ist in diesem Zusammenhang alles, was zur Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls führen kann.
c) Akteneinsicht
Rz. 625
Anlass zu Auseinandersetzungen bietet im Zusammenhang mit der Vorführung bzw. der Festnahme des Beschuldigten immer wieder die Frage nach der Akteneinsicht des Verteidigers und deren Reichweite. Nach der Rspr. des EGMR folgt aus Art. 5 Abs. 4 EMRK ein Anspruch des Untersuchungsgefangenen auf ein kontradiktorisches Verfahren. Die "Waffengleichheit" zwischen den Verfahrensbeteiligten muss gewährleistet sein. Daran fehlt es, wenn dem Verteidiger der Zugang zu Schriftstücken in der Ermittlungsakte versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlich sind. Es reicht insoweit nicht aus, den Verteidiger lediglich mündlich über die in der Akte dokumentierten Tatsachen und Beweismittel zu informieren.
Rz. 626
In diesem Zusammenhang ist auf die Rspr. des BVerfG hinweisen, wonach eine gerichtliche Entscheidung auf Fortbestand eines Haftbefehls nicht auf solche Aktenteile gestützt werden darf, die der Verteidigung vorenthalten werden. Nach der Rspr. des EGMR kommt hinzu, dass ein vollzogener Haftbefehl bei verweigerter Akteneinsicht aufgrund rechtsstaatlicher Grundsätze ohnehin aufzuheben ist.
Rz. 627
Der Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe – insbesondere die Bezugnahme auf eine vorangegangene Entscheidung der Kammer des EGMR – deutet darauf hin, dass nach Auffassung des EGMR Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht zwingend die Gewährung von Einsichtnahme in den gesamten Akteninhalt erfordert, sondern nur in die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten sowie vom Gericht herangezogenen Teile der Akte, auf die der Verdacht im Wesentlichen gestützt wird. Insofern ist jedo...