Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 212
Im "gewöhnlichen" Strafverfahren hat der Angeklagte die Sicherheit, dass ein von ihm eingelegtes Rechtsmittel (Berufung/Revision) nicht zu einer Verschlechterung des angefochtenen Urteils führt, sofern es von ihm bzw. von der StA zu seinen Gunsten eingelegt worden ist (§ 331 Abs. 1, § 358 Abs. 2 StPO, sog. Verbot der "reformatio in peius"). Im Einspruchsverfahren gegen einen Strafbefehl kann ihm dagegen eine Strafverschärfung drohen. Gemäß § 411 Abs. 4 StPO ist das Gericht bei der Urteilsfällung nicht "an den im Strafbefehl enthaltenen Ausspruch gebunden, soweit Einspruch eingelegt worden ist".
Rz. 213
Eine Ausnahme besteht jedoch bei einem Einspruch, der auf die Höhe der Tagessätze einer festgesetzten Geldstrafe beschränkt ist (§ 411 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 StPO, s. Rz. 172, 197).
Rz. 214
Es kann also durchaus dazu kommen, dass der Richter in der Hauptverhandlung eine höhere Strafe verhängt als ursprünglich im Strafbefehl ausgeworfen worden war. Vor Einlegung des Einspruchs ist dieses Risiko, das der Rechtsbehelf nach sich ziehen kann, infolgedessen sorgsam zu bedenken.
Rz. 215
Im Einzelnen ist Folgendes zu beachten: Nach h.M. kann das Gericht grds. – soweit es ihm nicht durch eine Beschränkung des Einspruchs verwehrt ist – auch bei gleichbleibendem Sachverhalt und Vorwurf eine höhere Strafe festsetzen.
Zwar ist der Richter nicht gehalten, den Angeklagten auf seine Absicht zur Strafschärfung hinzuweisen. Aus Gründen des fair trial sollte der Richter aber den Angeklagten im Falle eines offensichtlich erfolglos erscheinenden Einspruchs bereits bei Aufruf der Sache auf die Möglichkeit der Einspruchsrücknahme aufmerksam machen. Der Hinweis auf die Möglichkeit der Strafverschärfung begründet keine Besorgnis der Befangenheit.
Rz. 216
Eines Hinweises nach § 265 StPO bedarf es zunächst in den Fällen, in denen der Richter nunmehr eine Freiheitsstrafe oder eine im Strafbefehl nicht angeordnete Rechtsfolge festsetzen will, weil der Angeklagte im Hinblick auf § 407 Abs. 2 StPO damit nicht zu rechnen braucht. Eines Hinweises bedarf es weiterhin bei einer Verschärfung des Schuldspruchs, z.B. Mittäterschaft oder Anstiftung statt Beihilfe, Annahme eines besonders schweren Falles nach § 370 Abs. 3 AO.
Rz. 217
Es steht außer Frage, dass der Richter die Tatsache der Einspruchseinlegung als solche nicht straferschwerend berücksichtigen darf. Soweit der Richter den Eindruck der Uneinsichtigkeit des Angeklagten gewonnen hat, kann er diesen Umstand nur insoweit straferschwerend in Ansatz bringen, als sich diese Uneinsichtigkeit aus dem übrigen Verfahrensablauf ergeben hat, also insb. aufgrund des Verhaltens des Angeklagten in der Hauptverhandlung.
Rz. 218
Gleichwohl zeigt die Praxis ein anderes Bild. Exemplarisch hierfür ist die "Zoll-Affäre" (s. Beispiel) eines bekannten deutschen Fußballspielers, den seine "Uneinsichtigkeit" teuer zu stehen kam.
Beispiel
B hatte seiner Freundin aus Dubai eine Handtasche aus dem Duty-free-Shop im Wert von 2.000 EUR mitgebracht und bei der Zollkontrolle auf dem Münchener Flughafen nicht angemeldet. Die Einfuhrumsatzsteuer betrug 350 EUR.
Die zuständige StA Landshut, die gegen B ein Ermittlungsverfahren wegen eines Zollvergehens eingeleitet hatte, bot ihm die Einstellung des Verfahrens gem. § 153a StPO gegen Zahlung von 50.000 EUR an. Dies schlug B aus.
Daraufhin erließ das AG Landshut gem. dem Strafbefehlsantrag des HZA Landshut, den die StA an das Gericht weitergeleitet hatte, einen Strafbefehl über 60.000 EUR (zwölf Tagessätze à 5.000 EUR = 60.000 EUR). Die Tagessatzanzahl fiel angesichts des vergleichsweise geringen Wertes der "Schmuggelware" moderat aus, bei der Tagessatzhöhe wurde aber das Maximum von (damals noch) 5.000 EUR (heute 30.000 EUR) ausgeschöpft (s. Rz. 67). Gegen den seiner Meinung nach zu hoch ausgefallenen Strafbefehl legte B Einspruch ein.
Zwei Tage vor dem Prozesstermin erklärte sich B über seinen Anwalt aber doch mit einer Geldstrafe von zwölf Tagessätzen zu je 5.000 EUR einverstanden. Nun wollte aber das Gericht sich nicht mehr darauf einlassen. Nach einer Verständigung zwischen allen Verfahrensbeteiligten stellte das AG schließlich das Verfahren gem. § 153a StPO gegen eine Geldbuße von 70.000 EUR (!) ein und hob den Gerichtstermin auf. Die Erhöhung erklärte der Richter damit, dass das strafmildernde Geständnis mit dem Einspruch entfallen sei. B musste 65.000 EUR an gemeinnützige Einrichtungen zahlen, 5.000 EUR gingen an den Fiskus für die Verfahrenskosten.
Rz. 219
Im Urteil bedarf die jeweilige Rechtsfolgenanordnung im Gegensatz zum Strafbefehl stets einer tragenden Begründung (vgl. § 267 Abs. 3 StPO!). Werden die Rechtsfolgen verschärft, mag eine Begründung für die Abweichung vom Strafbefehl im Einzelfall als zweckmäßig anzusehen sein – zwingend ist sie jedoch nicht.
Rz. 220– 222
Einstweilen frei.