Rz. 210
Der in § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO bezeichnete besondere Ermittlungsauftrag zur Aufdeckung und Ermittlung "unbekannter Steuerfälle" betrifft
- die Nachforschung (bei bekannten und unbekannten Stpfl.) nach unbekannten Sachverhalten, die sich steuerlich auswirken können, und/oder
- die Nachforschung nach unbekannten Stpfl.
Rz. 211
Bereits diese Zuständigkeitszuweisung zeigt neben der strafrechtlichen Zielrichtung als Vorermittlungen den Charakter der Vorfeldermittlungen als "steuerrechtliche Ermittlungen gegen Unbekannt", da noch keine Besteuerungsverfahren konkrete Stpfl. betreffend eingeleitet, aber die Befugnisse nach der AO grds. eröffnet sind, wenngleich noch kein Beteiligter/Stpfl. zur Sachverhaltsaufklärung herangezogen werden kann. Mit dem aus dem Strafprozessrecht bekannten "Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt" (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 2, § 111 Abs. 1 Satz 2 StPO) kann dies aber nicht gleichgesetzt werden. Ein solches setzt immer einen Anfangsverdacht bzgl. der Begehung einer strafbaren Handlung voraus. Unbekannt ist nur die Person, gegen die sich das Verfahren richtet.
Rz. 212
Die abstrakte Umschreibung in § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO sagt nichts darüber aus, wie der Ermittlungsanlass, der Verdachtsgrund, beschaffen sein muss. Das freiheitsschonende Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Rechtsstaatsprinzip) wäre bei Ermittlungen ohne jeden Anlass, mithin "ins Blaue hinein" verletzt. Hierbei ist es aber zu weitgehend, wenn insofern ein strafprozessualer Anfangsverdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO (s. dazu Rz. 152 ff.) gefordert wird. Die Schwelle für Vorfeldermittlungen wird nach der Rspr. des BFH insb. zu sog. Sammelauskunftsersuchen nach § 93 AO (s. dazu näher Rz. 470 ff.) als sog. hinreichender Anlass umschrieben. Diese soll überschritten sein, wenn gestützt auf konkrete Momente oder die allgemeine Erfahrung die objektive Möglichkeit einer Steuerverkürzung in Betracht kommt und die FinB nach pflichtgemäßen Ermessen zu der Prognoseentscheidung gelangt, eine Ermittlungsmaßnahme bestimmter Art könne zur Aufdeckung steuerrechtlich erheblicher Tatsachen führen. Der Ermittlungsanlass soll sich vor allem aus den Besonderheiten des Objektes, der Höhe des Wertes oder aufgrund konkreter Erfahrungen für bestimmte Gebiete ergeben; die Abhängigkeit von der subjektiven Einschätzung der ermittelnden Beamten wird als nicht hinderlich angesehen.
Rz. 213
Betrachtet man die Definition des hinreichenden Anlasses, fragt sich, was unter "allgemeiner Erfahrung" zu verstehen ist und wie sich dies zu "konkreten Momenten" verhalten soll. Es bleibt unklar, wie mit allgemeiner Erfahrung ein Anlass im Einzelfall begründet werden soll, ohne dass ein unzulässiger Generalverdacht gegen eine unüberschaubare Anzahl von Stpfl. erhoben wird.
Rz. 214
Erkennbar ist noch, dass die allgemeine Erfahrung nicht mit einer "abstrakten Erfahrung" gleichgesetzt werden kann. Darüber hinaus verdeutlichen die Erfahrungen in Bezug auf Steuerunehrlichkeiten: In nahezu jedem Bereich lassen sich immer auch "schwarze Schafe" finden. Würde dies als Ermittlungsanlass genügen, ließe sich nicht sicherstellen, dass nicht doch mittels Ausforschungen "ins Blaue hinein" konkrete Ermittlungsanlässe erst gefunden werden sollen, was jedoch ebenfalls unstreitig nicht statthaft ist. Allein die Erkenntnis, dass Gesetze im Allgemeinen und Steuergesetze im Besonderen nicht immer beachtet werden und es nicht selten zu Steuerverkürzungen kommt, reicht nicht aus, um einen hinreichenden Anlass bejahen zu können.
Rz. 215
Das Problem, inwieweit aufgrund einer allgemeinen Erfahrung mit einer bestimmten Berufsgruppe oder bestimmten Geschäftsfeldern gegen einen weitreichenden Kreis von Personen, welche die gleichen Merkmale aufweisen oder vergleichbare Sachverhalte verwirklichen, ermittelt werden kann, zeigt sich folglich nicht erst bei der Rechtfertigung strafrechtlicher Ermittlungsmaßnahmen, sondern auch bei der Frage, ob steuerrechtliche Vor(feld)ermittlungen ergriffen werden dürfen. Nach wie vor fehlen klare und im Vorhinein absehbare Kriterien, wann die Schwelle des hinreichenden Anlasses erreicht ist. Die bestehenden Unklarheiten zeigen sich in der Rspr. nur allzu deutlich, wenn einerseits einzelne Fachärzte, die mit einem bestimmten Produkt Schwarzeinnahmen erzielen, einen hinreichenden Anlass für Ermittlungen der Steufa bieten sollen, andererseits durch bekannt gewordene Einzelfälle des Missbrauchs eines Kreditkartenkontos zur Verdeckung von Schwarzgeld oder des Einsatzes von (steuerunehrlichen) Nachunternehmern im Baugewerbe keine hinreichend spezifizierte Gruppe von Steuerpflichtigen beschrieben werden kann (s. ausführlich zur Rspr. Rz. 495 ff.).
Rz. 216
Letztendlich treffen die FG eine Abwägungsentscheidung im Einzelfall, da sich die vielfältigen Umstände, die steuerrechtliche Ermittlungsmaßnahmen beeinflussen, k...