Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
I. Ähnlichkeiten mit dem (Steuer-)Strafverfahren
Rz. 26
Durch die oben (s. Rz. 5 f.) bereits erwähnten Verweisungen in § 410 Abs. 1 AO, § 46 Abs. 1 und 2 OWiG ist das Bußgeldverfahren bei Steuerordnungswidrigkeiten in vielen Beziehungen dem Steuerstrafverfahren und dem allgemeinen Strafverfahren angeglichen. Im Folgenden ist daher nur auf einige Besonderheiten bei der Verfolgung und Ahndung von Steuerordnungswidrigkeiten einzugehen. Im Übrigen kann auf die entsprechenden Ausführungen zum Steuerstrafverfahren verwiesen werden.
II. Rechtsstellung im selbständigen Ermittlungsverfahren (§ 401 Abs. 1 Nr. 7 AO)
Rz. 27
Die zuständigen FinB haben, soweit sich aus der AO und dem OWiG nichts anderes ergibt, im Bußgeldverfahren dieselben Rechte und Pflichten wie die StA bei der Verfolgung von Straftaten (vgl. § 410 Abs. 1 AO i.V.m. § 46 Abs. 2 OWiG; zur Stellung der StA allgemein s. § 385 Rz. 61 ff.). Damit ist klargestellt, dass die FinB bei der Ahndung von Steuerordnungswidrigkeiten nicht die Stellung des Gerichts im Strafverfahren besitzen. Dies hat z.B. zur Folge, dass die §§ 22 ff. StPO über die Ausschließung und Ablehnung von Richtern auf die FinB nicht anwendbar sind.
Die Verfahrensvorschriften der StPO werden jedoch gem. § 46 Abs. 3–5 OWiG modifiziert. Auf welche Normen sich der Vorbehalt abweichender Regelungen in § 46 Abs. 2 OWiG bezieht, soll in diesem Zusammenhang nur anhand einiger wichtiger Beispiele gezeigt werden.
III. Allgemeine Verfahrensgrundsätze
1. Untersuchungsgrundsatz
Rz. 28
Die Gleichstellung mit der StA bedeutet u.a., dass die FinB im Bußgeldverfahren nach dem Ermittlungsgrundsatz zu verfahren hat (s. § 385 Rz. 30, 674). Die FinB muss von Amts wegen die Wahrheit erforschen und dabei ihre Ermittlungen auf alle bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel erstrecken. Auch die den Betroffenen entlastenden Umstände sind zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 2 OWiG). Der Untersuchungsgrundsatz gilt auch im gerichtlichen Bußgeld- bzw. Strafverfahren (s. Rz. 21 ff.; § 77 Abs. 1 OWiG, § 244 Abs. 2 StPO).
2. Opportunitätsprinzip
Ergänzender Hinweis: Nr. 104 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 104)
Rz. 29
Einer der besonders charakteristischen Unterschiede zum Strafverfahren besteht darin, dass die Verfolgungsbehörden im Bußgeldverfahren nicht dem Legalitätsprinzip (s. § 385 Rz. 62, 123), sondern dem Opportunitätsprinzip unterworfen sind (§ 47 OWiG ). Diese wichtige Prozessmaxime bedeutet zunächst, dass die Einleitung des Verfahrens anders als beim Legalitätsprinzip im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörden liegt und dass diese das Bußgeldverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen wieder einstellen können (§ 47 Abs. 1 OWiG). Bei Steuerordnungswidrigkeiten besteht mithin kein Verfolgungszwang. Die Verfolgungsbehörde (FinB, StA) schreitet bei Steuerordnungswidrigkeiten nur ein, "wenn ihr eine Ahndung notwendig erscheint, um die durch die verletzte Norm geschützten Ordnungswerte gegenüber diesem oder anderen Tätern durchzusetzen". Diese Regelung trägt dem geringen Unrechtsgehalt der Ordnungsverstöße Rechnung (grundlegend zum Unterschied von Kriminal- und Ordnungsunrecht s. vor § 377 Rz. 6 ff.).
Rz. 30
Ist das Bußgeldverfahren bei einem Gericht anhängig und hält dieses eine Ahndung nicht für geboten, so kann das Gericht – ebenfalls als Ausfluss des Opportunitätsprinzips – das Verfahren mit Zustimmung der StA einstellen (§ 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG). Hierbei ist allerdings die FinB zu hören (§ 407 Abs. 1 Satz 2 AO i.V.m. § 410 Abs. 1 Nr. 11 AO). Die Zustimmung der StA ist entbehrlich bei einer Geldbuße bis zu 100 EUR und bei erklärtem Verzicht der StA auf Teilnahme an der Hauptverhandlung (§ 47 Abs. 2 Satz 2 OWiG). Die Verfolgung und Ahndung einer Steuerordnungswidrigkeit unterliegt also in allen Abschnitten des Verfahrens (einschl. des gerichtlichen Bußgeld- oder Strafverfahrens) dem pflichtgemäßen Ermessen der für den jeweiligen Verfahrensabschnitt zuständigen Verfolgungs- bzw. Ahndungsbehörde, soweit sie die Dispositionsbefugnis über das Verfahren hat.
Rz. 31
Die Entscheidung der Verfolgungsbehörde, das Bußgeldverfahren wegen einer Steuerordnungswidrigkeit einzuleiten oder einzustellen, muss nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen. Eine befriedigende Definition dieses Begriffs gibt es nicht. Auch hat der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet, die Voraussetzungen und Grenzen dieses Ermessens festzulegen. Aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich aber immerhin, dass § 47 OWiG die Verfahrensweise nicht in das Belieben der Verfolgungsbehörden und Gerichte stellt. Diese haben vielmehr ihre Entscheidung im Einzelfall danach zu treffen, welche Bedeutung und Auswirkung die Tat hat, ob Wiederholungsgefahr besteht, wie häufig derartige Gesetzesverstöße sind, welches Verhalten der Betroffene nach der Tat an den Tag legt, wie stark sein Verschulden ist und welcher Zweck mit der Ahndung verfolgt wird. Die Verfolgungsbehörde darf somit im Bu...