In Bezug auf die Steuerung des Kreditrisikos kommt der Differenzierung zwischen erwarteten und unerwarteten Verlusten eine große Bedeutung zu. Ein Unternehmen, das einen Forderungsbestand aufbaut, muss zwangsläufig auch mit Forderungsausfällen rechnen. Die völlige Vermeidung von Ausfällen wird nicht gelingen und kann somit auch kein Ziel des Forderungsmanagements darstellen. Es stellt sich daher zunächst die Frage, in welcher Höhe mit Verlusten durch Forderungsausfälle zu rechnen ist.
Um diese Frage beantworten zu können, müssen zunächst die Ausfallwahrscheinlichkeiten der einzelnen Forderungen bekannt sein. Derartige Informationen lassen sich gewinnen, indem die Schuldner einem Rating unterzogen werden.
Erwarteter Verlust
Besteht beispielsweise eine Forderung in Höhe von 100.000 EUR gegen einen Schuldner, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 % während des kommenden Jahres ausfallen wird, dann beläuft sich der Erwartungswert des Verlustes auf 100.000 EUR x 1 % = 1.000 EUR. Besteht der gesamte Forderungsbestand eines Unternehmens aus 1.000 solcher Forderungen, dann beträgt der Erwartungswert des Verlustes 1.000 EUR x 1.000 = 1 Mio. EUR. Dieser Verlust wird als der erwartete Verlust des Forderungsbestands bezeichnet. Ein jährlicher Verlust durch Forderungsausfälle wird sich in dieser Höhe im längerfristigen Mittel einstellen (vgl. Schierenbeck, 2003, S. 258).
Aus dieser Erkenntnis ergeben sich verschiedene Schlussfolgerungen in Bezug auf das Forderungsmanagement. Dadurch, dass das Unternehmen einen Forderungsbestand aufbaut, ergibt sich offensichtlich das Kreditrisiko. Würde dieses Risiko ohne weitere Maßnahmen akzeptiert, dann hätte dies zur Folge, dass das Unternehmen einen Teil des wirtschaftlichen Risikos des Schuldners resp. des Kunden übernimmt, ohne hierfür eine adäquate Gegenleistung zu erhalten. Eine gute Analogie hierfür ist eine Versicherung, bei der ein Versicherungsunternehmen zwar zusagt, die Schäden zu tragen, hierfür aber keine Prämie verlangt. Tatsächlich ist es jedoch so, dass ein Versicherungsunternehmen die eigentlichen Risiken nicht übernimmt. Die Prämien, die sämtliche Versicherungsnehmer zahlen, sollen so hoch sein, dass dadurch die Schäden, die bei einigen wenigen Versicherten auftreten, gedeckt werden können, d. h., die Versicherungsnehmer selbst tragen die entstehenden Schäden gemeinschaftlich.
Diese Überlegung lässt sich auf das Forderungsmanagement eines Unternehmens übertragen. Wenn es nicht die Aufgabe des Unternehmens ist, das wirtschaftliche Risiko der Schuldner zu übernehmen, dann muss die Folgerung lauten, dass die Schuldner ihr Risiko selbst tragen müssen. Mit anderen Worten: Die Schuldner müssen eine "Versicherungsprämie" an den Gläubiger entrichten. Diese Prämie, die das Unternehmen einfordern muss, entspricht exakt dem erwarteten Verlust der einzelnen Forderung. Im oben genannten Beispiel bedeutet dies, dass die Schuldner jeweils eine Risikoprämie von 1.000 EUR dafür zahlen müssten, dass das Unternehmen die Forderung und damit das Risiko des Ausfalls übernimmt. Aus der Perspektive des Unternehmens reichen dann die Risikoprämien im Mittel exakt aus, um die ausfallbedingten Verluste zu kompensieren.
Der Verlust durch Forderungsausfälle wird nicht in jedem Jahr dem erwarteten Verlust entsprechen, d. h., der tatsächliche Verlust wird um diesen Mittelwert schwanken. Das eigentliche Kreditrisiko, das ein Unternehmen zu tragen hat, besteht in der Gefahr, dass der reale Verlust größer als der erwartete Verlust sein wird, sodass die kalkulierten Risikoprämien nicht ausreichen, um den Verlust durch Forderungsausfälle zu decken (vgl. Schierenbeck, 2003, S. 256). Eine derartige Überschreitung des erwarteten Verlustes wird als unerwarteter Verlust bezeichnet.
Die Höhe des unerwarteten Verlustes, also das potenzielle Ausmaß einer Überschreitung des mittleren Verlustes, hängt von verschiedenen Einflussgrößen ab:
- Je größer das Volumen des Forderungsportfolios ist, desto größer wird auch der (absolute, d. h. in Geldeinheiten gemessene) unerwartete Verlust.
- Weitaus größere Relevanz als das Gesamtvolumen besitzt allerdings die Größenstruktur des Forderungsbestands. Je mehr sich das Volumen auf zahlreiche Geschäfte mit kleinem Volumen verteilt, desto kleiner wird auch der unerwartete Verlust sein. Umgekehrt steigt der unerwartete Verlust selbst dann stark an, wenn einige wenige Einzelforderungen mit großem Volumen akzeptiert werden.
- Auch die Laufzeitenstruktur des Forderungsbestandes besitzt einen Einfluss auf das Risiko. Je länger die Fristigkeiten, desto größer ist auch das Risiko.
- Je schlechter die Bonität der Schuldner ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Ausfall kommt. Infolgedessen steigt auch der unerwartete Verlust an.
- Schließlich spielt auch die Frage eine Rolle, inwieweit die einzelnen Forderungen unabhängig voneinander sind. Häufig bestehen positive Korrelationen zwischen den Forderungen, d. h., wenn eine Forderung ausfällt, wächst die Wahrscheinlichkei...