Entscheidungsstichwort (Thema)
Kenntnis der Arbeitgeberin von Überstunden ihrer Führungskräfte. Zahlungsklage des technischer Leiters eines Fuhrunternehmens bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitgeberin zur Zuweisung von Aufgaben
Leitsatz (amtlich)
1. Da in Deutschland jährlich fast 1 Milliarde Überstunden weder bezahlt noch durch Freizeit abgegolten werden, was einem Anteil von über 50 % gemessen an allen Überstunden entspricht, kann es durchaus zweifelhaft sein, ob der rigiden Rechtsprechung des BAG zur Bezahlung von Überstunden zu folgen ist.
2. Der Arbeitgeber ist "Herr Im eigenen Betrieb". Sieht man von Alternativbetrieben ab, in denen eventuell jeder macht, was er will, kann ein Arbeitgeber mithilfe seiner Betriebshierarchie "aufgedrängte" Überstunden schon einfach dadurch vermeiden, dass nach Ableistung der regulären Arbeitszeit die Arbeitnehmer nach Hause geschickt werden.
3. Ein arbeitsvertraglich geregelter Anspruch auf Bezahlung von Überstunden wird nicht deswegen gegenstandslos, weil alle Führungskräfte Mehrarbeit leisten, ohne dafür eine gesonderte Vergütung zu erhalten.
4. Behauptet ein Arbeitgeber, dass alle Führungskräfte bei ihm unentgeltlich Mehrarbeit leisten, dann ergibt sich schon hieraus seine Kenntnis der Ableistung von Überstunden dieser Personengruppe. Damit duldet er diese Mehrarbeit.
5. Eine arbeitsteilig organisierte juristische Person muss nach normativen Verkehrsschutz-Anforderungen die Verfügbarkeit des einmal erlangten Aktenwissens organisieren. Kommt sie dem nicht nach, muss sie sich so behandeln lassen, als habe sie von diesen Informationen Kenntnis.
Normenkette
BGB §§ 286, 288, 611-612, 611 Abs. 1; ArbZG § 3 S. 1, § 16 Abs. 2 S. 1, § 22 Abs. 1 Nr. 9
Verfahrensgang
ArbG Potsdam (Entscheidung vom 23.11.2016; Aktenzeichen 8 Ca 1603/16) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 23.11.2016 - 8 Ca 1603/16 - teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 4.498,63 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.08.2016 zu zahlen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten - soweit für dieses Teilurteil von Relevanz - über die Abgeltung von 535,25 Überstunden in der Zeit vom 06.09.2015 bis 27.05.2016.
Die Beklagte betreibt ein größeres Fuhrunternehmen. Der Kläger war in der Zeit vom 09.06.2015 bis 15.07.2016 bei der Beklagten als Leiter Technik/Fuhrpark gegen ein Bruttomonatsentgelt von zuletzt 5.500,-- € tätig. Im Arbeitsvertrag war u.a. geregelt:
"Arbeitszeit
Die regelmäßige Arbeitszeit richtet sich nach den gesetzlichen Bestimmungen.
Sie kann aus betrieblichen Gründen auf mehrere Wochen ungleichmäßig verteilt werden.
Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, auf Anordnung des Arbeitnehmers (sic!) Mehrarbeit und Überstunden im gesetzlich zulässigen Umfang zu leisten. ...
Für den Arbeitnehmer wird ein Arbeitszeitkonto geführt, in das die über die regelmäßige Arbeitszeit geleisteten Arbeitsstunden eingestellt werden. Die in das Arbeitszeitkonto eingestellten Stunden werden innerhalb von 12 Kalendermonaten entweder durch bezahlte Freistellung oder aber durch Zahlung des Mindestlohnes nach dem Mindestlohngesetz ausgeglichen."
In den ersten drei Wochen des Arbeitsverhältnisses wurde die Arbeitszeit automatisch mit einem Chip aufgezeichnet.
Die unentgeltliche Erbringung von Mehrarbeit über den vereinbarten Arbeitsumfang hinaus ist bei Logistikunternehmen der freien Wirtschaft für Mitarbeiter in gehobenen Positionen üblich und entspricht der Praxis in fast allen Unternehmen. Auch bei der Beklagten leisten die Führungskräfte alle Mehrarbeit, ohne dafür eine gesonderte Vergütung zu erhalten.
Mit Schreiben vom 10.06.2016 kündigte der Kläger sein Arbeitsverhältnis zum 15.07.2016 und verlangte die Bezahlung für 606,75 Überstunden auf der Basis einer 42,5-Stundenwoche bis zum 15.07.2016. Mit der am 31.08.2016 beim Arbeitsgericht Potsdam eingegangenen Klage begehrte der Kläger u.a. auf Basis einer 45-Stundenwoche die Vergütung der hier noch streitigen Überstunden.
Der Kläger hat behauptet, er hätte im ersten Halbjahr noch nicht an der morgendlichen Telefonkonferenz um 07:30 Uhr teilnehmen müssen. Dies sei erst ab Januar 2016 der Fall gewesen. Um 18:00 Uhr hätte er dann auch an einer zweiten Telefonkonferenz teilnehmen müssen. Pausen im eigentlichen Sinne hätte er nicht nehmen können. Im Schriftsatz vom 24.10.2016 hat er auf den Seiten 3 - 11 zu jeder Kalenderwoche die seiner Behauptung nach jeweiligen Überstunden aufgelistet, wobei in den Anl. K4 und K5 für jeden einzelnen Arbeitstag Beginn und Ende abzüglich einer pauschalen Pause von 45 Minuten angegeben waren. Hierauf und auf die dort enthaltenen Angaben zu ausgeführten Arbeitsaufgaben wird Bezug genommen.
Der Kläger hat - bezogen auf die hiesigen Überstunden - sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen an ihn 4.549,62 € brutto nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.07.2016 zu zahlen.
Die ...