Peter Gassen, Dr. Karoline Schwarz
Rn. 4
Stand: EL 152 – ET: 08/2021
Der VZ-übergreifende Verlustabzug (wegen des vorrangigen einkünfteübergreifenden Verlustausgleichs im VZ selbst s § 2 Abs 3 EStG) ist seit längerem Gegenstand einer intensiv geführten verfassungsrechtlichen Debatte. Im Beschluss BFH v 29.04.2005, XI B 127/04, BStBl II 2005, 609 hatte der BFH keine ernsthaften Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit eines nur begrenzten Verlustabzugs nach § 10d EStG, da die von Verfassungs wegen gebotene einkommensteuerliche Freistellung des Existenzminimums nur den Verlustausgleich im Verlustentstehungsjahr selbst betreffe; Bestätigung von BFH v 25.06.2004, XI B 20/03, BFH/NV 2005, 176; auch s Wendt, FR 2005, 886; Kohlhaas, DStR 2006, 2240; Hallerbach in H/H/R, § 10d EStG Rz 12, 303. Erg-Lfg.
Rn. 5
Stand: EL 152 – ET: 08/2021
§ 10d EStG wird von weiten Teilen der Literatur für verfassungsrechtlich problematisch erachtet, s Herff, KÖSDI 2004, 14 253; Intemann/Nacke, DStR 2004, 1149 1150; Weber-Grellet, Stbg 2004, 82; Rödder/Schumacher, DStR 2003, 1725 1726; Forst/Frings, EStB 2004, 82; Leis, FR 2004, 55; Desens, FR 2011, 745; Hey in Tipke/Lang, § 8 Rz 68 (23. Aufl); Überblick zum verfassungsrechtlichen Meinungsbild bei Drüen, FR 2013, 393; aA Heuermann, FR 2012, 435; zu den Bedenken des BR s BT-Drucks 15/1665, 2. Im Wesentlichen soll ein Verstoß gegen das Nettoprinzip vorliegen, da es aufgrund der Streckung des Verlustvortrags infolge der Mindestbesteuerung zu einer Scheingewinnbesteuerung komme, weil dem zu besteuernden Gewinn in Form des vorgetragenen Verlustes noch nicht abgezogene BA gegenüberstehen. Zudem liege ein Verstoß gegen die AfA-Regelungen vor, weil durch die teilweise Nichtverrechenbarkeit die langfristige Verteilung des Aufwands nach den AfA-Bestimmungen konterkariert werde, s Weber-Grellet, Stbg 2004, 75, 82. Nach aA sei jedoch das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht verletzt (s Pfirrmann in Kirchhof, § 10d EStG Rz 3, 19. Aufl). Eine etwaige endgültige Beschneidung des Verlustabzugs bei Objektgesellschaften oder im Insolvenzfall sei durch das Erfordernis der Haushaltskonsolidierung (gerechnet wurde mit Mehreinnahmen – davon 80 % durch KapGes – von EUR 296 Mrd, s BT-Drucks 15/1518, 11) gerechtfertigt, s Hallerbach in H/H/R, § 10d EStG Rz 13, 303. Erg-Lfg, der beispielhaft aufführt, wie dadurch sogar der Vermögensstamm angegriffen werden kann; s auch Bernwart, NWB F 3, 12 757, 12 760. Die Frage der Anwendbarkeit der Mindestbesteuerung im Rahmen einer endgültigen Abwicklungsbesteuerung nach Abschluss eines Insolvenzverfahrens ist derzeit beim BFH anhängig, BFH I R 36/18.
Rn. 6
Stand: EL 152 – ET: 08/2021
UE ist die Lösung der Thematik weniger im Verfassungsrecht zu suchen. Das BVerfG hat schon früher zum Ausdruck gebracht, dass ein uneingeschränkter Verlustvortrag verfassungsrechtlich nicht garantiert sei. Weder die Beschränkung des Verlustvortrags auf bestimmte Einkunftsarten noch auf bestimmte durch BV-Vergleich ermittelte Betriebsverluste wurden verfassungsrechtlich beanstandet; s BVerfG v 02.05.1978, 1 BvR 136/78, HFR 1978, 293. Auch darin, dass der Gesetzgeber den Verlustabzug auf einen einjährigen Verlustrücktrag und einen fünfjährigen Verlustvortrag beschränkt hat, hat das BVerfG keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gesehen; s BVerfG v 22.07.1991, 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423.
Kann somit der Verlustabzug für einzelne Einkunftsarten gänzlich ausgeschlossen oder auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt werden, so wird man eine Verfassungswidrigkeit von § 10d Abs 2 EStG, der den Verlustvortrag nicht ausschließt, sondern nur – zeitlich unbegrenzt – streckt, wohl schwerlich annehmen können; s BFH v 29.04.2005, XI B 127/04, BFH/NV 2005, 1189. Auch der BFH ist der Auffassung, dass dem Leistungsfähigkeitsprinzip Genüge getan ist, wenn Verluste periodenübergreifend überhaupt verrechnet werden können, und dass es unschädlich ist, wenn der Verlustvortrag über mehrere VZ gestreckt wird; s BFH v 15.09.2001, BFH-PR 2001, 294.
Allerdings erhebt der BFH ernstliche verfassungsrechtliche Bedenken im Bezug auf die Mindestbesteuerung gemäß § 10d Abs 2 S 1 EStG in den Fällen, in denen eine Verlustverrechnung in späteren VZ aus rechtlichen Gründen endgültig ausgeschlossen ist (s BFH v 26.08.2010, BStBl II 2011, 826; BFH v 22.08.2012, I R 9/11, BStBl II 2013, 512; BFH v 21.09.2016, I R 65/14, GmbHR 207, 204; BFH v 26.02.2014, I R 59/12, BStBl II 2014, 1016). Zur endgültigen Verlustverrechnung bei ausländischen Betriebsstätten s Rn 90. Zur Verfassungsmäßigkeit der (gewerblichen) Mindestbesteuerung s BFH v 20.09.2012, IV R 36/10, DStR 2012, 2481 (dazu: Micker, Kommentiertes Steuerrecht (KSR 2013, 9)), wonach selbst ein endgültig nicht verrechenbarer Verlust verfassungsmäßig ist. Teilweise aufgrund der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, teilweise aufgrund der Vorlage durch den BFH selbst sind derzeit Verfahren zur Mindestbesteuerung beim BVerfG anhängig (2 BvR 242/17, 2 BvR 29...