Rn. 90
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Obwohl sich der Begriff der Kunst nach allg Auffassung sehr schwer definieren bzw "kaum erfassen" lässt (BFH BStBl II 1983, 7; 1984, 491; BFH/NV 1993, 716; ferner BVerfGE 67, 213, 225), besteht angesichts der unterschiedlichen Auswirkungen der Zuordnung erzielter Einkünfte zu den gewerblichen oder aus selbstständiger Arbeit (s Rn 7ff) aus Gründen der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit ein verfassungsrechtliches Definitionsgebot (ebenso zB Schick, Die freien Berufe im StR, 22; Kirchhof, NJW 1985, 225; Kempermann, FR 1992, 250, 251 Fn 18; Schneider, DStZ 1993, 165; Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 101 (Februar 2020); zweifelnd Stuhrmann in K/S/M, § 18 EStG Rz B 62).
Rn. 90a
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Der BFH sieht in st Rspr das Wesen der Kunst als eigenschöpferische Leistung, in der sich eine individuelle Anschauungsweise und besondere Geltungskraft widerspiegelt, und die eine gewisse künstlerische Gestaltungshöhe erreicht (BFH BStBl III 1960, 453; BStBl II 1977, 474; 1981, 21; 1987, 376; 1990, 643; 1991, 20; 1991, 889; 1992, 353; 1992, 353; 1992, 413; 1994, 864; 2005, 362; 2006, 709; 2007, 702; 2015, 217; BFH/NV 1995, 210; 1999, 460; 1999, 465).
Daneben wird das Wesen von Kunst auch als freie schöpferische Gestaltung verstanden, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden (BVerfGE 30, 173, 188; 67, 213, 226; NJW 1971, 1645) – sog "material-wertbezogener" Kunstbegriff (vgl Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 102 (Februar 2020)).
Es darf aber mE nicht übersehen werden, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Definitionen handelt, die sich dadurch unterscheiden, dass das Merkmal der Gestaltungshöhe nur in Ersterer auftaucht. Eine Brücke soll die Auffassung schaffen, das Merkmal der Gestaltungshöhe konkretisiere lediglich als Kurzformel das Abgrenzungskriterium "Ausdruck individueller Anschauungsweise und Gestaltungskraft" (BFH BStBl II 1991, 889; 1992, 353; Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 104 (Februar 2020)), und zwar insofern, als die künstlerische Leistung dem Produkt den "Stempel der Persönlichkeit" aufdrücken muss (BFH BStBl II 1981, 170; 1990, 643; 1991, 20; 1991, 889).
Rn. 90b
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Daneben wird zum einen der sog "formal-typologische Ansatz" betont, für den es genügt, dass bei formaler bzw typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind, zB Malerei, Musik, Dichtung (Henschel, Kunstfreiheit als Grundrecht, S 10; Schneider, DStZ 1993, 165). Allerdings verbirgt sich mE hinter der Formulierung "Gattungsanforderung" letztlich der material-wertbezogene Ansatz; zudem birgt die Anknüpfung an eine bestimmte Gattung die Gefahr der Verengung des Kunstbegriffs auf bestimmte Teilbereiche, nämlich Musik, Literatur, bildende und darstellende Künste, nicht jedoch das Ansprechen von Geruchs- und Geschmackssinn (vgl BFH BFH/NV 1998, 956 zum Saucendesigner).
Hinzu kommt der sog "zeichentheoretische Ansatz", der darauf abstellt, dass die Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts des Werks die fortgesetzte Interpretation des Dargestellten zu immer weiterreichenden Bedeutungen ermöglicht mit der Folge einer unerschöpflichen vielstufigen Informationsvermittlung (Zöbeley, NJW 1985, 254; Henschel aaO; Kempermann, FR 1992, 250; zu allem auch Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 102 (Februar 2020)).
Rn. 90c
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die gegen das Merkmal der "gewissen Gestaltungshöhe" (seit BFH BStBl III 1960, 453) gerichtete Kritik wendet sich gegen die Differenzierung innerhalb der Kunst und die Überbewertung der Gestaltungsqualität; es könne nicht Aufgabe der Gerichte sein, mit Begriffen wie "künstlerischer Gestaltung" oder "Werkhöhe" eine Definition der Kunst zu versuchen (Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S 157 sowie DStR 1983, 638; Maassen, Kunst oder Gewerbe?, 100 ff; Kempermann, FR 1992, 250, 252 hält es für verzichtbar).
Die Kritik ist mE nicht unberechtigt. Ihr wird zwar entgegengehalten, eine Qualitätsprüfung werde nicht vorgenommen, das Merkmal sei als Konkretisierung der Notwendigkeit eines individuellen Schöpfungsaktes im Gegensatz zur Verwendung bloßer Schablonen zu verstehen und in den Bereichen der traditionellen künstlerischen Betätigungen zweckfreier Art führe schon der formale Kunstbegriff zu sachgerechten Ergebnissen, insofern könne von einer Vermutung zugunsten der künstlerischen Betätigung ausgegangen werden (zB Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 104 (Februar 2020); Kempermann, FR 1992, 250; Schneider, DStZ 1993, 165; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S 154). Dem ist mE nicht ohne weiteres zuzustimmen, denn eine Vielzahl von schablonenfreien Darbietungen zweckfreier Art ist mit dem Anliegen der Anerkennung als Kunst am Merkmal der Gestaltungshöhe gescheitert.
Rn. 90d
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Eine zwischen dem material-wertbezogenen und dem zeichentheoretischen Ansatz vermittelnde Position versteht Kunst als persönlichkeitsgeprägtes Ge...