Rn. 329
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die Vervielfältigungstheorie (s Rn 237) hatte für die Tätigkeiten und Einkünfte iSd § 18 Abs 1 Nr 3 EStG bis in jüngste Zeit weiterhin Bedeutung. Zu den Wesensmerkmalen der (vermögens-)verwaltenden Tätigkeit wurde es angesehen, dass sie in ihrem Kernbereich auf der eigenen persönlichen Arbeitskraft des Berufsträgers beruht. Die Regelungen des § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 u 4 EStG galten auch angesichts ihrer systematischen Stellung bei den freien Berufen für die sonstigen selbstständigen Tätigkeiten nicht (zB BFH BStBl II 1971, 239; 1994, 936; 2002, 202). Der Grund wurde im Weiteren darin gesehen, dass die von § 18 Abs 1 Nr 3 EStG erfassten Tätigkeiten ihrer Art nach einer mehr kaufmännischen Berufsausübung näher stünden als die freien Berufe in § 18 Abs 1 Nr 1 EStG (BFH BStBl II 1994, 936; 1973, 730; zustimmend ua Kanzler, FR 1994, 114; Korn, DStR 1995, 1249; aA Wacker in Schmidt, § 18 EStG Rz 32; Siemon, BB 2009, 1836; BB 2011, 873; Pezzer, FS J. Lang, 2010, 491).
Rn. 329a
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Nach Änderung der Rspr durch den BFH ist jedoch auch auf die sonstigen selbstständigen Tätigkeiten die Vervielfältigungstheorie nicht mehr anzuwenden ist (BFH BStBl II 2011, 498; 2011, 506; 2015, 1002; BFH/NV 2011, 1303; 2011, 1306; 2011, 1309; 2011, 1314 zu Insolvenz- und Zwangsverwaltern, zustimmend Moritz, DB 2011, 684; Hilbertz, StBw 2011, 294; jh, StuB 2011, 272; Ritzrow, EStB 2011, 227; Neumeier, NJW 2011, 111; Olbing/Zumwinkel AnwBl 2011, 718; Kopp, NJW 2011, 1560; Korn, KÖSDI 2012, 17 755; ablehnend Wacker in Schmidt, § 18 EStG Rz 32). Weder aus den Fassungen des EStG 1934 und 1960 noch aus der Entstehungsgeschichte der Gesetzesfassung 1960 lasse sich der Wille des Gesetzgebers entnehmen, die steuerrechtliche Zulässigkeit der Mithilfe von qualifizierten Mitarbeitern unter der Voraussetzung der leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit des Betriebsinhabers auf die freien Berufe zu beschränken. Für einen Umkehrschluss aus der Stellung der Sätze 3 und 4 in der Nr 1 des § 18 EStG auf die steuerrechtliche Unzulässigkeit der Beschäftigung von qualifizierten Mitarbeitern fehlten sachliche Gründe. Die Tatsache schließlich, dass die Tätigkeiten der Nr 3 den kaufmännischen Tätigkeiten näher stünden als die freien Berufe, sei kein Argument gegen, sondern eher für die entsprechende Anwendung des § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 u 4 EStG.
Rn. 329b
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die Rspr-Änderung bedeutet: Insb die Entscheidung BFH BStBl II 2002, 202 (RA im Gesamtvollstreckungsverfahren) dürfte überholt sein. Die Abgrenzung zwischen einer sonstigen selbstständigen Arbeit iSv § 18 Abs 1 Nr 3 EStG und einer gewerblichen Tätigkeit ist nach den Grundsätzen zur leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit des Berufsträgers (s Rn 240ff) vorzunehmen. Der Besteuerungstatbestand will die selbstständige Arbeit steuerrechtlich begünstigen (vgl BFH BStBl II 1976, 155). Deshalb ist als gewerbliche Tätigkeit nur eine solche zu behandeln, die nicht mehr die Merkmale des § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 u 4 EStG erfüllt. Zu den nach wie vor bestehenden Gefahren daher Olbing, AnwBl 2016, 33.
Die Bedeutung der Beschäftigtenzahl (s noch BFH BFH/NV 1999, 1456) hat sich mE demnach gewandelt. Wann sie die Grenze zur Gewerblichkeit überschreitet, kann nur im Einzelfall nach dem Gesamtbild der Verhältnisse und der Art der Tätigkeit beurteilt werden (BFH BStBl II 1994, 936, betreffend Insolvenzverwalter; BFH BStBl II 1984, 823 betreffend Zwangsverwalter; BFH BStBl II 2005, 611 betreffend fachlich vorgebildete ArbN und Subunternehmer). Hierbei werden auch das Berufsbild und die entsprechenden berufsrechtlichen Vorschriften von Bedeutung sein, wie BFH BStBl II 2011, 498; 2011, 506 für den Insolvenzverwalter/Zwangsverwalter anhand der für diesen geltenden VergütungsVO aufgezeigt hat. Die Erledigung von Hauptpflichten, zB das "Ob" bei maßgeblichen Entscheidungen, wie die Durchführung eines Prozesses, oder Berichtspflichten, die Einberufung der Gläubigerversammlung, der Insolvenzplan oder die Schlussrechnung, muss dem Geschäftsinhaber vorbehalten bleiben (hierzu auch FG Ha v 05.06.2018, 2 K 54/14, ZInsO 2018, 2496). Ist das der Fall, so ist es nicht schädlich, wenn das "Wie", also deren kaufmännisch-praktische Umsetzung, zB die Durchführung eines Anfechtungsprozesses, die Entlassung von ArbN, Verwertung der Masse, den Mitarbeitern überlassen bleibt. Das gilt auch dann, wenn hierfür gehobene Kenntnisse, zB Rechtskenntnisse, erforderlich sind (auch s Rn 247).
In den weiteren entschiedenen Fällen sprach jeweils eine stattliche Anzahl von fachlich vorgebildeten Mitarbeitern nach Auffassung des BFH (bzw der Vorinstanz) nicht dagegen, dass die maßgeblichen Entscheidungen tatsächlich vom Geschäftsinhaber getroffen worden waren (vgl BFH BFH/NV 2011, 1303; 2011, 1304; 2011, 1309; 2011, 1314; BStBl II 2015, 1002). Auch insoweit hängt es also weitgehend von der Geschicktheit vor dem FA/FG ab, ob eine größere Anzahl von fachlich vorgebildeten Mitarbeitern noch ...