Rn. 35d
Stand: EL 164 – ET: 04/2023
Der EuGH hatte mehrfach Gelegenheit, Regelungen zur Beschränkung der Verlustverrechnung zwischen Betriebsstätte und Stammhaus bei Vorliegen eines DBA mit Freistellungsmethode – entweder aufgrund einzelstaatlicher Vorschriften oder der Verteilungsmechanismen von DBA – auf ihre Vereinbarkeit mit EU-Recht zu prüfen (s Rehm/Nagler, IStR 2008, 129). Der EuGH hatte in den beiden grundlegenden Entscheidungen "Marks & Spencer" (EuGH vom 13.12.2005, C-446/03, DStR 2005, 2168) und "Lidl Belgium" (EuGH vom 15.05.2008, C-414/06, BStBl II 2009, 692) eine vermittelnde Lösung entwickelt, in der Rechtssache "Timac Agro" (EuGH vom 17.12.2015, C-388/14, BB 2016, 21) und in der Rechtssache "W" (EuGH vom 22.09.2022, C-538/20, DStR 2022, 1993) aber eine Neupositionierung im Hinblick auf seine bisherige Rspr zur grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung vorgenommen. Der EuGH sieht wie der BFH einen Verlust als final an, wenn im Betriebsstättenstaat alle vorgesehenen Möglichkeiten der Verlustberücksichtigung ausgeschöpft wurden und keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste künftig von der Betriebsstätte selbst oder einem Dritten dort berücksichtigt werden (EuGH vom 13.12.2005, C-446/03, DStR 2005, 2168 "Marks & Spencer"). Er definiert die einzelnen Tatbestandsmerkmale finaler Verluste jedoch nicht konkret und abschließend. Der EuGH kommt teilweise zu restriktiveren Ergebnissen als der BFH und schließt Finalität selbst dann aus, wenn keine Möglichkeit der Verlustnutzung im Ausland besteht (EuGH vom 07.11.2013, C-322/11 "K").
Der EuGH prüft die Rechtmäßigkeit der Versagung des Verlustausgleichs durch § 2a EStG anhand der europarechtlichen Grundfreiheiten in drei Schritten:
- Vorliegen eines Eingriffes in die Niederlassungsfreiheit durch Diskriminierung,
- Rechtmäßigkeit des Eingriffs,
- Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.
Niederlassungsfreiheit
Der EuGH erkennt in der Versagung der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung grundsätzlich einen Verstoß gegen die europarechtliche Niederlassungsfreiheit iSd Art 49 AEUV, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine Gesellschaft, die in diesem Staat ansässig ist und eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat unterhält, steuerlich benachteiligt wird, indem ihr der Verlustabzug für diese gebietsfremde Gesellschaft versagt wird, einer gebietsansässigen Gesellschaft jedoch, die in ihrem Sitzstaat eine Betriebsstätte unterhält, die Steuervergünstigung des Verlustabzuges gewährt wird. Wesentlich für die Entwicklung und Einordnung der Rspr des EuGH ist die Vergleichspaarbildung von ausländischer und inländischer Betriebsstätte. Nach st Rspr des EuGH (EuGH vom 13.12.2005, C-446/03, DStR 2005, 2168 "Marks & Spencer"; EuGH vom 17.07.2014, C-48/13, IStR 2014, 563 "Nordea Bank Danmark") schützt die Niederlassungsfreiheit auch vor steuerlicher Diskriminierung von Gesellschaften in einem Mitgliedstaat, die eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem EWR-Staat unterhalten, im Vergleich zu Unternehmen mit Inlandsbetriebsstätte. Daher steht seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Lidl Belgium" (EuGH vom 15.05.2008, C-414/06, BStBl II 2009, 692) fest, dass die Grundfreiheiten eine Berücksichtigung der Verluste einer ausländischen Betriebsstätte im Ansässigkeitsstaat des Unternehmens erfordern, wenn die Verluste der Betriebsstätte "final" sind. Von "finalen" Verlusten wird gesprochen, wenn die Verluste im Belegenheitsstaat der Betriebsstätte endgültig keine Berücksichtigung mehr finden. Der EuGH (EuGH vom 23.10.2008, C-157/07, IStR 2008, 769 "Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH") erkannte in der Hinzurechnungsnorm des damals geltenden § 2a Abs 3 EStG eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.
Hiervon weicht der EuGH in der Rechtssache "Timac Agro" sowie in der Rechtssache "W" ab. Er hat (EuGH vom 17.12.2015, C-388/14, BB 2016, 21 "Timac Agro") weder in der Versagung des Abzugs ausländischer Betriebsstättenverluste bei der inländischen Besteuerung noch in der Hinzurechnung von Verlusten einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gesehen, wenn eine inländische Gesellschaft mit einer Betriebsstätte in einem anderen EU-Mitgliedstaat diese Betriebsstätte an eine ausländische Gesellschaft des gleichen Konzerns verkauft, sofern die Betriebsstätteneinkünfte nach einem DBA von der Besteuerung im Inland freizustellen sind.
Der EuGH verneint bereits die objektive Vergleichbarkeit der Situation
- des Stammhauses mit einer im EU-Ausland belegenen Freistellungsbetriebsstätte
- mit der eines Unternehmens mit einer inländischen Betriebsstätte
und lehnt deshalb einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit ab. Dieser Fall des Besteuerungsverzichtes aufgrund eines DBA (aufgrund der Freistellungsmethode) sei nicht mit einem auf nationalem Recht beruhenden Verzicht der Besteuerung einer Gesellschaft mit einer gebietsansässigen Betriebsstätte zu vergleichen. Vergleichbar könne der Fall einer auf DBA beruhenden Freistellung nur...